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14.

[Schriftsteller]

Wie sieht der Literat in einem Lande aus, in dem sein Auftraggeber das Proletariat ist? – Die Theoretiker des Bolschewismus betonen, wie sehr die Lage des Proletariats in Rußland nach dieser siegreichen Revolution von der der Bourgeoisie im Jahre 1789 unterschieden sei. Damals hatte die siegreiche Klasse, bevor die Macht ihr zufiel, in jahrzehntelangen Auseinandersetzungen die Beherrschung des geistigen Apparats sich gesichert. Die intellektuelle Organisation, die Bildung war längst mit der Ideenwelt des tiers état durchsetzt und der geistige Emanzipationskampf vor dem politischen durchgefochten. Im heutigen Rußland liegt das ganz anders. Für Millionen und Abermillionen von Analphabeten sollen die Fundamente einer allgemeinen Bildung erst gelegt werden. Das ist eine nationalrussische Aufgabe. Die vorrevolutionäre Bildung Rußlands war aber durchaus unspezifisch, europäisch. Das europäische Moment der höheren Bildung, das nationale der elementaren suchen in Rußland den Ausgleich. Das ist die eine Seite der Bildungsfrage. Andrerseits hat der Sieg der Revolution in vielen Gebieten das Tempo der Angleichung an Europa beschleunigt. Gibt es doch Literaten wie Pilnjak, welche im Bolschewismus die Bekrönung des Werkes Peters des Großen sehen. Auf technischem Gebiet ist diesem Kurs, trotz aller Abenteuer seiner ersten Jahre, vermutlich früher oder später der Erfolg gewiß. Anders auf geistigem und wissenschaftlichem. Jetzt zeigt sich in Rußland, daß die europäischen Werte in eben der entstellten, trostlosen Gestaltung popularisiert werden, die sie zuletzt dem Imperialismus zu danken haben. Das zweite akademische Theater – ein staatlich unterstütztes Institut – bringt eine Aufführung der »Orestie«, in der verstaubtes Griechentum sich so verlogen wie auf der Bühne eines deutschen Hoftheaters spreizt. Und da die marmorstarre Geste nicht allein in sich verderbt, sondern dazu Kopie der Hofschauspielerei im revolutionären Moskau ist, wirkt sie noch trister als in Stuttgart oder in Anhalt. Die russische Akademie der Wissenschaften ihrerseits hat einen Mann wie Walzel – Durchschnittstyp des neueren schöngeistigen Hochschullehrers – zu ihrem Mitglied gemacht. Wahrscheinlich sind die einzigen Kulturverhältnisse des Westens, für welche Rußland so lebendiges Verständnis mitbringt, daß sich die Auseinandersetzung mit ihnen verlohnt, die von Amerika. Dagegen ist die kulturelle »Annäherung« als solche (ohne das Fundament konkretester wirtschaftlicher, politischer Gemeinschaft) ein Interesse der pazifistischen Spielart des Imperialismus, kommt nur betriebsamen Schwätzern zustatten und ist für Rußland Restaurationserscheinung. Das Land ist weniger noch durch Grenzen und Zensur vom Westen abgeschlossen als durch die Intensität eines Daseins, das ohne Vergleich mit dem europäischen ist. Genauer gesagt: die Fühlung mit dem Ausland geht durch die Partei und betrifft hauptsächlich politische Fragen. Die alte Bourgeoisie ist vernichtet; die neue ist materiell und geistig nicht in der Lage, Beziehungen zum Ausland zu vermitteln. Unzweifelhaft weiß man in Rußland vom Ausland weit weniger als man im Ausland (etwa mit Ausnahme der romanischen Länder) von Rußland weiß. Wenn eine große russische Kapazität im gleichen Atem Proust und Bronnen als Autoren nennt, welche im Umkreise sexueller Problematik ihre Stoffe wählen, so zeigt das deutlich die verkürzte Perspektive, in der von hier aus Europäisches erscheint. Wenn aber einer unter Rußlands führenden Autoren gesprächsweise als einen von den großen Dichtern, die vor der Erfindung der Buchdruckerkunst geschaffen haben, Shakespeare anführt, so kann ein solcher Mangel an Schulung nur aus den ganz veränderten Bedingungen russischen Schrifttums überhaupt begriffen werden. Thesen und Dogmen, welche in Europa – freilich nur erst seit zwei Jahrhunderten – als kunstfremd und indiskutabel unter Literaten gelten, sind in Kritik und Produktion des neuen Rußlands ausschlaggebend. Tendenz und Stoffkreis werden für das Wichtigste erklärt. Formale Kontroversen spielten noch zur Zeit des Bürgerkriegs bisweilen eine nicht geringe Rolle. Nun sind sie verstummt. Und heute ist die Lehre offiziell, daß Stoff, nicht Form über die revolutionäre oder die konterrevolutionäre Haltung eines Werkes entscheide. Durch solche Lehren wird dem Literaten genau so unwiderruflich der Boden entzogen, wie das die Wirtschaft materiell getan hat. Rußland ist hier der westlichen Entwicklung voraus – nicht aber so weit wie man glaubt. Denn früher oder später muß mit dem Mittelstande, der im Ringen von Kapital und Arbeit zerrieben wird, auch der »freie« Schriftsteller untergehen. In Rußland ist der Vorgang abgeschlossen: der Intellektuelle ist vor allem Funktionär, arbeitet im Zensur-, Justiz-, Finanzdepartement, ist, wo er nicht dem Untergang verfällt, Teilhaber an der Arbeit – das heißt aber, in Rußland, an der Macht. Er ist ein Angehöriger der herrschenden Klasse. Unter seinen verschiedenen Organisationen ist die vorgeschobenste WAPP, der allgemeine russische Verband der proletarischen Schriftsteller. Sie bekennt sich zum Gedanken der Diktatur auch im Gebiete des geistigen Schaffens. Damit trägt sie der russischen Wirklichkeit Rechnung: die Überführung der geistigen Produktionsmittel in den Besitz der Allgemeinheit läßt nur scheinbar von der der materiellen sich sondern. Fürs erste kann der Proletarier sich an beiden nur unterm Schutz der Diktatur ausbilden.