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16.

[Bildungsarbeit]

Wer ein russisches Klassenzimmer zum erstenmal betritt, wird überrascht stehenbleiben. Die Wände starren von Bildern, Zeichnungen und Pappmodellen. Es sind Tempelmauern, an die die Kinder als Geschenke an das Kollektivum tagtäglich ihre eigenen Werke stiften. Das Rot herrscht vor; sie sind durchsetzt von Sowjet-Emblemen und Leninköpfen. Ähnliches kann man in vielen Klubs sehen. Wandzeitungen sind für Erwachsene Schemata derselben kollektiven Äußerungsform. Sie sind entstanden aus der Not des Bürgerkrieges, als es an vielen Orten weder Druckpapier noch Druckerschwärze mehr gab. Heute sind sie im öffentlichen Leben der Betriebe obligat. Jede Leninecke hat ihre Wandzeitung, die je nach den Betrieben und Verfassern ihre Art verändert. Durchgehend ist nur die naive Freudigkeit: farbige Bilder und dazwischen Prosa oder Vers. Die Zeitung ist die Chronik des Kollektivs. Sie gibt statistische Erhebungen aber auch scherzhafte Kritik an Genossen, mischt darunter Vorschläge zur Betriebsverbesserung oder Aufrufe zu gemeinsamen Hilfsaktionen. Aufschriften, Warnungstafeln und Lehrbilder bedecken auch sonst die Wände der Leninecke. Selbst im Betrieb ist jeder wie umstellt von farbigen Plakaten, die alle Schrecken der Maschine beschwören. Da ist ein Arbeiter dargestellt, wie sein Arm zwischen die Speichen eines Triebrads gerät, ein anderer, wie er in der Trunkenheit durch Kurzschluß eine Explosion hervorruft, ein dritter, wie er mit dem Knie zwischen zwei Kolben kommt. Im Ausleihraum der Rotarmistenbücherei hängt eine Tafel, deren kurzer Text mit vielen hübschen Zeichnungen verdeutlicht, auf wieviel Arten sich ein Buch verderben läßt. In Hunderttausenden von Exemplaren ist durch ganz Rußland ein Plakat zur Einführung der Maße, welche in Europa üblich sind, verbreitet. Meter, Liter, Kilogramm usw. müssen in jeder Gastwirtschaft plakatiert werden. Auch in dem Lesesaal des Bauernklubs an der Trubnaja Ploschtschad sind die Wände mit Anschauungsmaterial überdeckt. Dorfchronik, landwirtschaftliche Entwicklung, Produktionstechnik, kulturelle Institutionen sind graphisch in Entwicklungslinien festgehalten, daneben Werkzeugbestandteile, Maschinenstücke, Retorten mit Chemikalien überall an den Wänden zur Schau gestellt. Neugierig trat ich vor eine Konsole, von der zwei Negerfratzen mir entgegengrinsten. Aber beim Näherkommen erwiesen sie sich als Gasmasken. Früher war das Gebäude dieses Klubs eines der ersten Restaurants von Moskau. Die ehemaligen Separées sind heute Schlafräume für die Bauern und Bäuerinnen, die eine »Kommandirowka« in die Stadt bekommen haben. Dort führt man sie durch Sammlungen und Kasernen, hält Kurse und Bildungsabende für sie ab. Bisweilen gibt es auch ein pädagogisches Theater in der Form der »Gerichtsverhandlung«. Da füllen dann etwa dreihundert Menschen, sitzend und stehend, den rotausgeschlagenen Saal bis hinein in die letzten Winkel. In einer Nische die Leninbüste. Verhandelt wird auf einer Bühne, vor welcher rechts und links gemalte Proletariertypen – ein Bauer und ein Industriearbeiter – die »Smitschka« (»Klammer«), die Verklammerung von Stadt und Land verkörpern. Die Beweisaufnahme ist eben beendet, ein Sachverständiger hat das Wort. Er hat mit seinem Assistenten ein Sondertischchen, ihm gegenüber der Tisch des Verteidigers, beide die Schmalseite zum Publikum gewandt. Im Hintergrunde, frontal, der Richtertisch. Davor, in schwarzer Kleidung, sitzt, in ihren Händen einen dicken Ast, die Angeklagte, eine Bäuerin. Sie wird beschuldigt der Kurpfuscherei mit tödlichem Ausgang. Durch einen falschen Eingriff hat sie eine Frau bei der Entbindung ums Leben gebracht. Die Argumentation umkreist nun diesen Fall in monotonen, einfachen Gedankengängen. Der Sachverständige gibt sein Gutachten ab: Schuld an dem Tode der Mutter sei nur der falsche Eingriff. Der Verteidiger aber plädiert: Kein böser Wille; auf dem Lande fehle es an sanitärer Hilfe und hygienischer Belehrung. Schlußwort der Angeklagten: Nitschewo, es haben immer Menschen dabei sterben müssen. Der Staatsanwalt beantragt Todesstrafe. Dann wendet sich der Vorsitzende an die Versammlung: Sind Fragen zu stellen? Aber auf der Estrade erscheint nur ein Komsomols und fordert unnachsichtliche Bestrafung. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück. Nach kurzer Pause folgt das Urteil, das im Stehen vernommen wird: zwei Jahre Gefängnis unter Zubilligung mildernder Umstände. Von Einzelhaft wird daher abgesehen. Zum Schluß weist seinerseits der Präsident auf die Notwendigkeit, hygienische und Bildungs-Zentren auf dem flachen Lande zu errichten, hin. Solche Demonstrationen sind sorgfältig vorbereitet; von Improvisationen kann hier nicht die Rede sein. Um für die Fragen bolschewistischer Moral das Publikum im Sinne der Partei mobil zu machen, kann es kein wirksameres Mittel geben. Einmal wird dergestalt die Trunksucht abgehandelt, ein andermal das Defraudantentum, die Prostitution, der Hooliganismus. Die strengen Formen solcher Bildungsarbeit sind ganz und gar dem Sowjetleben angemessen, sind Niederschläge einer Existenz, die hundertmal am Tage Stellungnahme fordert.