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3.

[Winter]

Das winterliche Moskau ist eine stille Stadt. Leise spielt sich das ungeheure Getriebe der Straßen ab. Das macht der Schnee. Aber das macht auch die Rückständigkeit des Verkehrs. Autosignale beherrschen das Großstadtorchester. Aber in Moskau gibt es erst wenig Autos. Sie werden nur bei Hochzeiten und Todesfällen und zum beschleunigten Regieren aufgeboten. Freilich setzen sie abends hellere Lichter auf, als sie in irgendeiner andern Großstadt es dürfen. Und die Lichtkegel stoßen so blendend vor, daß wer einmal davon ergriffen ist, hilflos sich nicht von der Stelle wagt. Vorm Kremltor stehen im blendenden Licht die Posten in den frechen ockergelben Pelzen, über ihnen funkelt das rote Signal, das den Verkehr in der Durchfahrt regelt. Alle Farben von Moskau schießen hier, im Zentrum der russischen Macht, prismatisch zusammen. Lichtbündel aus den überstarken Autolampen jagen durchs Dunkel. In ihrem Schein scheuen die Pferde der Kavalleristen, die im Kreml ein großes Übungsfeld haben. Fußgänger schlagen sich zwischen Autos und zwischen ungebärdigen Gäulen durch. Lange Folgen von Schlitten, auf denen man Schnee abführt. Einzelne Reiter. Stumme Rabenschwärme haben im Schnee sich niedergelassen. Das Auge ist unendlich mehr beschäftigt als das Ohr. Die Farben bieten ihr Äußerstes gegen das Weiß auf. Der kleinste bunte Fetzen glüht im Freien. Bilderbücher liegen im Schnee; Chinesen verkaufen kunstvolle papierne Fächer, häufiger noch papierne Drachen in der Form exotischer Tiefseefische. Tagaus, tagein ist man auf Kinderfeste eingerichtet. Es gibt Männer, die Körbe voll Holzspielzeug haben, Wagen und Spaten; gelb und rot sind die Wagen, gelb oder rot die Schaufeln der Kinder. All dies geschnitzte und gezimmerte Gerät ist schlichter und solider als in Deutschland, sein bäuerlicher Ursprung ist deutlich sichtbar. Eines Morgens stehen am Straßenrand niegesehene winzige Häuschen mit blitzenden Fenstern und einem Zaun um den Vorplatz: Holzspielzeug aus dem Gouvernement Wladimir. Das heißt: ein neuer Warenschub ist eingetroffen. Ernsthafte, nüchterne Bedarfsartikel werden im Straßenhandel verwegen. Ein Korbverkäufer mit allerhand Ware, bunter, wie man sie überall auf Capri kaufen kann, doppelten Henkelkörben mit quadratisch strengen Mustern, trägt auf der Spitze seiner Stange glanzpapierne Bauer mit glanzpapiernen Vögelchen im Innern. Aber auch ein wirklicher Papagei, ein weißer Ara, ist manchmal zu sehen. In der Mjassnitzkaja steht eine Frau mit Weißwaren, auf Tablett oder Schulter hockt ihr der Vogel. Den malerischen Hintergrund zu solchen Tieren muß man sich anderswo, beim Stand der Photographen, suchen. Unter den kahlen Bäumen der Boulevards stehen Paravents mit Palmen, Marmortreppen und südlichen Meeren. Und noch ein anderes gemahnt hier an den Süden. Das ist die wilde Mannigfaltigkeit des Straßenhandels. Schuhkrem und Schreibzeug, Handtücher, Puppenschlitten, Schaukeln für Kinder, Damenwäsche, ausgestopfte Vögel, Kleiderbügel – alles drängt auf die offene Straße, als wären nicht 25° unter Null, sondern voller neapolitanischer Sommer. Lange war mir ein Mann geheimnisvoll, der vor sich eine dicht beschriftete Tafel hatte. Ich wollte einen Wahrsager in ihm sehen. Endlich einmal gelang mir, ihn bei seinem Treiben zu belauschen. Ich sah, daß er von seinen Lettern zwei verkaufte und einem Kunden sie als Initialen in den Galoschen befestigte. Dann die breiten Schlitten mit den drei Fächern für Cacaouettes, Haselnüsse und Semitschky (Sonnenblumenkerne, die nun nach einer Verfügung der Sowjets an öffentlichen Orten nicht mehr gekaut werden dürfen). Garköche sammeln sich in der Nähe der Arbeitsbörse. Sie haben heiße Kuchen zu verkaufen und in Scheiben gebratene Wurst. All das geht aber lautlos vor sich, Rufe, wie sie im Süden jeder Händler hat, sind unbekannt. Die Leute wenden sich an den Passanten eher mit Reden, gesetzten, wenn nicht geflüsterten, in denen etwas von der Bettlerdemut liegt. Nur eine Kaste zieht hier laut durch die Straßen, das sind die Lumpensammler mit ihrem Sack auf dem Rücken; ihr melancholischer Ruf durchklingt ein oder mehrmals wöchentlich jedes Viertel. Der Straßenhandel ist zum Teil illegal und vermeidet dann jedes Aufsehen. Frauen, in offener Hand auf einer Lage Stroh ein rohes Stück Fleisch, ein Huhn, einen Schinken, stehen und bieten es den Passanten an. Das sind Verkäuferinnen ohne Erlaubnis. Sie sind zu arm, um die Gebühr für einen Warenstand zu zahlen, und haben keine Zeit, um eine Wochenkonzession auf einem Amt sich viele Stunden anzustellen. Kommt ein Milizionär, dann laufen sie einfach davon. Der Straßenhandel gipfelt in den großen Märkten, an der Smolenskaja und am Arbat. Und an der Sucharewskaja. Dieser berühmteste liegt unter einer Kirche, die sich mit blauen Kuppeln über den Buden aufhebt. Zuerst passiert man das Viertel der Alteisenhändler. Die Leute haben ihre Ware einfach im Schnee liegen. Man findet alte Schlösser, Meterstäbe, Handwerkszeug, Küchengerät, elektrotechnisches Material. An Ort und Stelle führt man Reparaturen aus; ich sah über einer Stichflamme löten. Sitze gibt es hier nirgends, alles steht aufrecht, schwatzt oder handelt. Auf diesem Markt läßt die architektonische Funktion der Ware sich erkennen: Tücher und Stoffe bilden Pilaster und Säulen; Schuhe, Walinki, die an Schnüren gereiht überm Verkaufstische hängen, werden zu Dächern der Bude; große Garmoschkas (Ziehharmoniken) bilden tönende Mauern, also gewissermaßen Memnonsmauern. Ob in den wenigen Ständen mit Heiligenbildern noch heute im geheimen jene seltsamen Ikonen, deren Verkauf schon der Zarismus unter Strafe stellte, zu bekommen sind, weiß ich nicht. Da gab es die Muttergottes mit den drei Händen. Sie ist halbnackt. Aus dem Nabel steigt eine kräftige, wohlgebildete Hand. Rechts und links breiten die beiden andern in der Gebärde des Segnens sich aus. Die Dreiheit dieser Hände wird für ein Symbol der heiligen Dreifaltigkeit erachtet. Es gab ein anderes Andachtsbild der Gottesmutter, das sie mit offenem Unterleibe darstellt; Wolken treten daraus statt der Eingeweide; in ihrer Mitte tanzt das Christuskind und hält in der Hand eine Geige. Da der Verkaufszweig der Ikonen zum Papier- und Bilderhandel rechnet, so kommen diese Buden mit Heiligenbildern neben die Stände mit Papierwaren zu stehen, so daß sie überall von Lenin-Bildern flankiert sind, wie ein Verhafteter von zwei Gendarmen. Das Straßenleben setzt auch nachts nicht völlig aus. In dunklen Torwegen stößt man auf Pelze wie Häuser. Nachtwächter hocken darin auf ihren Stühlen und machen von Zeit zu Zeit sich schwerfällig auf.