§ 2. Die Wirkungsmittel der Führer:
Behauptung, Wiederholung, Übertragung


Wenn es sich darum handelt, eine Masse für den Augenblick mitzureißen und sie zu bestimmen, irgend etwas zu tun, etwa einen Palast zu plündern, sich bei der Verteidigung eines befestigten Platzes oder einer Barrikade töten zu lassen, so muß man durch raschen Einfluß auf sie wirken. Der erfolgreichste ist das Beispiel. Doch ist dann notwendig, dass die Masse schon durch gewisse Umstände vorbereitet ist und besonders, dass der, der sie mitreißen will, die Eigenschaft besitzt, die ich später als Einfluß untersuchen werde.

Handelt es sich jedoch darum, der Massenseele Ideen und Glaubenssätze langsam einzuflößen, z. B. die modernen sozialen Lehren, so wenden die Führer verschiedene Verfahren an. Sie benutzen hauptsächlich drei bestimmte Arten: die Behauptung, die Wiederholung und die Übertragung oder Ansteckung (contagion). Ihre Wirkung ist ziemlich langsam, aber ihre Erfolge sind von Dauer.

Die reine, einfache Behauptung ohne Begründung und jeden Beweis ist ein sichres Mittel, um der Massenseele eine Idee einzuflößen. Je bestimmter eine Behauptung, je freier sie von Beweisen und Belegen ist, desto mehr Ehrfurcht erweckt sie. Die religiösen Schriften und die Gesetzbücher aller Zeiten haben sich stets einfacher Behauptungen bedient. Die Staatsmänner, die zur Durchführung einer politischen Angelegenheit berufen sind, die Industriellen, die ihre Erzeugnisse durch Anzeigen verbreiten, kennen den Wert der Behauptung.

Die Behauptung hat aber nur dann wirklichen Einfluß, wenn sie ständig wiederholt wird, und zwar möglichst mit denselben Ausdrücken. Napoleon sagte, es gäbe nur eine einzige ernsthafte Redefigur: die Wiederholung. Das Wiederholte befestigt sich so sehr in den Köpfen, dass es schließlich als eine bewiesene Wahrheit angenommen wird.

Man versteht den Einfluß der Wiederholung auf die Massen gut, wenn man sieht, welche Macht sie über die aufgeklärtesten Köpfe hat. Das Wiederholte setzt sich schließlich in den tiefen Bereichen des Unbewußten fest, in denen die Ursachen unserer Handlungen verarbeitet werden. Nach einiger Zeit, wenn wir vergessen haben, wer der Urheber der wiederholten Behauptung ist, glauben wir schließlich daran. Daher die erstaunliche Wirkung der Anzeige. Haben wir hundertmal gelesen, die beste Schokolade sei die Schokolade X, so bilden wir uns ein, wir hätten es häufig gehört und glauben schließlich, es sei wirklich so. Tausend schriftliche Zeugnisse überreden uns so sehr, zu glauben, das Y-Pulver habe die bedeutendsten Persönlichkeiten von den hartnäckigsten Krankheiten geheilt, dass wir uns am Ende, wenn wir selbst an einem derartigen Übel erkranken, versucht fühlen, es zu probieren. Lesen wir täglich in derselben Zeitung, A sei ein ausgemachter Schuft und B ein Ehrenmann, so werden wir schließlich davon überzeugt, vorausgesetzt allerdings, dass wir nicht zu oft in einem andern Blatt die entgegengesetzte Meinung lesen, die die Eigenschaften der beiden miteinander vertauscht. Behauptung und Wiederholung allein sind mächtig genug, um einander bekämpfen zu können.

Wenn eine Behauptung oft genug und einstimmig wiederholt wurde, wie das bei gewissen Finanzunternehmungen der Fall ist, die jede Konkurrenz aufkaufen, so bildet sich das, was man eine geistige Strömung (courant d'opinion) nennt, und der mächtige Mechanismus der Ansteckung kommt dazu. Unter den Massen übertragen sich Ideen, Gefühle, Erregungen, Glaubenslehren mit ebenso starker Ansteckungskraft wie Mikroben. Diese Erscheinung beobachtet man auch bei Tieren, wenn sie in Scharen zusammen sind. Das Krippenbeißen eines Pferdes im Stall wird bald von den andern Pferden desselben Stalles nachgeahmt. Ein Schreck, die wirre Bewegung einiger Schafe greift bald auf die ganze Herde über. Die Übertragung der Gefühle erklärt die plötzlichen Paniken. Gehirnstörungen, wie der Wahnsinn, verbreiten sich gleichfalls durch Übertragung. Es ist bekannt, wie häufig der Irrsinn bei Psychiatern auftritt. Man berichtet sogar von Geisteskrankheiten, z. B. der Platzangst, die vom Menschen auf Tiere übertragen werden.

Die Übertragung erfordert nicht die gleichzeitige Anwesenheit der Individuen an demselben Ort, sie kann auch aus der Entfernung unter dem Eindruck gewisser Ereignisse erfolgen, die alle Geister in dieselbe Richtung lenken und ihnen die besonderen Merkmale der Masse verleihen, besonders, wenn sie durch die früher erwähnten mittelbaren Faktoren vorbereitet sind. So hat z. B. der Revolutionsausbruch von 1848, der von Paris ausging, in jäher Weise auf einen großen Teil Europas übergegriffen und mehrere Monarchien erschüttert.*)

Die Nachahmung, der man so großen Einfluß auf die sozialen Erscheinungen zugeschrieben hat, ist in Wahrheit nur eine einfache Wirkung der Übertragung. Da ich ihre Rolle an anderer Stelle bereits beschrieben habe, so beschränke ich mich auf die Wiederholung dessen, was ich vor vielen Jahren darüber sagte, und was seitdem von andern Autoren ausgeführt wurde:

"Wie die Tiere ist der Mensch von Natur ein nachahmendes Wesen. Nachahmung ist ihm Bedürfnis, doch wohlgemerkt nur unter der Bedingung, dass sie leicht ist; aus diesem Bedürfnis wird die Macht der Mode geboren. Mag es sich nun um Meinungen, Ideen, literarische Äußerungen oder einfach um die Kleidung handeln, wie viele wagen es, sich ihrer Herrschaft zu entziehen. Nicht mit Beweisgründen, sondern durch Vorbilder leitet man die Massen. Jedem Zeitalter drückt eine kleine Anzahl von einzelnen ihr Siegel auf, das die Masse unbewußt nachahmt. Aber diese einzelnen dürfen sich nicht allzu weit von den überkommenen Ideen entfernen. Die Nachahmung würde dann zu schwierig und ihr Einfluß wäre gleich Null. Deshalb haben die Menschen, die ihrer Zeit zu sehr überlegen sind, keinerlei Einfluß. Der Abstand ist zu groß. Aus demselben Grunde haben die Europäer trotz aller Vorzüge ihrer Kultur einen so unbedeutenden Einfluß auf die Völker des Orients."

"Die vereinigte Wirkung von Vergangenheit und gegenseitiger Nachahmung macht alle Menschen desselben Landes und desselben Zeitalters schließlich so ähnlich, dass selbst bei denen, deren besondere Pflicht es doch wäre, sich ihr zu entziehen, bei Philosophen, Gelehrten, Schriftstellern, Gedanken und Stil eine Familienähnlichkeit zeigen, die sofort die Zeit, der sie angehören, erkennen läßt. Eine kurze Unterhaltung mit irgendeinem Menschen genügt, um seinen Lesestoff, seine regelmäßige Beschäftigung und die Umgebung, in der er lebt, von Grund auf erkennen zu lassen."**)

Die Ansteckung ist stark genug, den Menschen nicht nur gewisse Meinungen, sondern auch bestimmte Arten des Fühlens aufzuzwingen. Sie bewirkt die Mißachtung von Werken wie z. B. der Oper "Tannhäuser" und macht einige Jahre später aus ihren ärgsten Verleumdern Bewunderer.

Überzeugung und Glaube der Massen verbreiten sich nur durch den Vorgang der Übertragung, niemals mit Hilfe von Vernunftgründen. Im Wirtshause befestigen sich durch Behauptung, Wiederholung und Übertragung die heutigen Begriffe der Arbeiter, und der Glaube der Masse ist zu allen Zeiten ebenso geschaffen worden. Treffend vergleicht Renan die Begründer des Christentums mit den "sozialistischen Arbeitern, die ihre Ideen von Wirtshaus zu Wirtshaus verbreiten". Und schon Voltaire hat in bezug auf die christliche Religion festgestellt, "mehr als hundert Jahre habe ihr nur der gemeinste Pöbel angehangen".

In Beispielen, analog den angeführten, geht die Übertragung, wenn sie sich in den Volksschichten ausgewirkt hat, in die höheren Gesellschaftsschichten über. Heutzutage sehen wir, dass die sozialistischen Lehren anfangen, auch die zu ergreifen, die vermutlich ihre ersten Opfer sein werden. Vor der mechanischen Ansteckung tritt sogar der persönliche Vorteil zurück.

Daher zwingt sich jede volkstümlich gewordene Anschauung schließlich immer auch den höchsten sozialen Schichten auf, so offensichtlich auch die Unsinnigkeit der siegreichen Anschauung sein mag. Diese Wirkung der unteren sozialen Schichten auf die Oberklassen ist um so merkwürdiger, als die Glaubensanschauungen der Masse mehr oder weniger immer von einer höheren Idee herrühren, die in der Umgebung, in der sie geboren wurde, häufig ohne Wirkung blieb. Die Führer, die von dieser höheren Idee ergriffen wurden, bemächtigen sich ihrer, entstellen sie und gründen eine Sekte, die sie aufs neue entstellt und so entstellt unter den Massen verbreitet. Ist sie einmal eine volkstümliche Wahrheit geworden, so geht sie auf irgendeine Weise zu ihrer Quelle zurück und wirkt dann auf die Oberklassen eines Volkes. Wohl führt letzten Endes die Intelligenz die Welt, aber sie führt sie wahrlich von weitem. Die Schöpfer der Ideen sind längst wieder zu Staub geworden, wenn, als Ergebnis der Vorgänge, die ich beschrieben habe, ihr Gedanke schließlich triumphiert.

 

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*) Siehe meine letzten Arbeiten: "Politische Psychologie", "Meinungen und Anschauungen", "Die Französische Revolution und die Psychologie der Revolutionen".

**) Gustave le Bon. Der Mensch und die Gesellschaften. 1881. Bd. 2, S. 116.


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