Das allgemeine Stimmrecht


Ich will denn auch aus dem Vorstehenden keinen Schluß gegen das allgemeine Stimmrecht ziehen. Hätte ich über sein Geschick zu entscheiden, so würde ich es so beibehalten, wie es ist, und zwar aus praktischen Gründen, die sich eben aus unsrer Untersuchung über die Psychologie der Massen ergeben, und die ich auseinandersetzen werde, wenn ich erst an seine Nachteile erinnert habe.

Die Nachteile des allgemeinen Stimmrechts fallen ohne Zweifel zu sehr in die Augen, als dass man sie verkennen könnte. Es ist nicht in Abrede zu stellen, dass die Kulturen das Werk einer kleinen Minderheit überlegener Geister gewesen sind; diese bilden die Spitze einer Pyramide, deren Stufen nach unten gemäß der Abnahme des geistigen Wertes breiter werden und die tieferen Schichten eines Volkes darstellen. Die Größe einer Kultur darf gewiß nicht von dem Stimmrecht untergeordneter Elemente abhängen, die nichts als eine Zahl bedeuten. Ohne Zweifel sind die Abstimmungen der Massen recht oft gefährlich. Sie haben uns bereits mehrere Invasionen gekostet, und mit dem Triumph des Sozialismus werden uns die Einfälle der Volksherrschaft gewiß noch viel teuerer zu stehn kommen ...

Aber diese Einwände, die theoretisch tadellos sind, büßen für die Praxis jede Kraft ein, wenn man sich der unüberwindlichen Macht der Ideen erinnert, die in Glaubenssätze umgewandelt wurden. Der Glaubenssatz von der Herrschaft der Massen ist vom philosophischen Standpunkt ebensowenig zu verfechten wie die religiösen Glaubenssätze des Mittelalters, aber er hat heute die unumschränkte Macht. Daher ist er ebenso unangreifbar wie einst unsere religiösen Ideen. Man stelle sich einen modernen Freidenker vor, der durch eine magische Gewalt ins tiefste Mittelalter versetzt würde. Glaubt man etwa, er würde, wenn er die unumschränkte Macht der religiösen Ideen, die damals herrschten, erkannt hätte, versucht haben, sie zu bekämpfen? Hätte er daran gedacht, die Existenz des Teufels und den Hexensabbath zu leugnen, wenn er in die Hände eines Richters gefallen wäre, der ihn unter der Anschuldigung, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und den Hexensabbath besucht zu haben, verbrennen lassen wollte? Gegen die Überzeugungen der Masse streitet man ebensowenig wie gegen Zyklone. Der Glaubenssatz des allgemeinen Stimmrechts hat heute die Macht, die einst die Lehren des Christentums besaßen. Redner und Schriftsteller sprechen darüber mit einer Achtung und mit Schmeicheleien, die Ludwig XIV. nicht kennengelernt hat. Man muß ihm dieselbe Beachtung schenken wie allen religiösen Dogmen. Die Zeit allein wirkt auf sie.

Es wäre übrigens um so zweckloser, diese Lehre erschüttern zu wollen, als sie offensichtliche Gründe für sich hat. "In Zeiten der Gleichheit", sagt Tocqueville treffend, "traut einer dem andern nicht, weil alle einander ähnlich sind; aber gerade diese Ähnlichkeit gibt ihnen ein fast unbegrenztes Vertrauen in das Urteil der Allgemeinheit. Denn es erscheint nicht wahrscheinlich, dass, da alle die gleiche Einsicht haben, die Wahrheit nicht auf der Seite der größten Zahl zu finden sein soll."

Darf man nun annehmen, die Abstimmungen der Massen würden durch die Beschränkung des Stimmrechts auf die Fähigen — wenn man will — eine Besserung erfahren? Ich kann es keinen Augenblick annehmen, und zwar aus Gründen, die ich oben bereits angeführt habe und die in der geistigen Bedeutungslosigkeit aller Gesamtheiten liegen, wie sie auch immer zusammengesetzt sein mögen. Ich wiederhole: in der Masse gleichen sich die Menschen stets einander an, und die Abstimmung von vierzig Akademikern über allgemeine Fragen gilt nicht mehr als die von vierzig Wasserträgern. Ich bin ganz und gar überzeugt, dass keine der Abstimmungen, die dem allgemeinen Stimmrecht so oft vorgehalten werden, wie etwa die Erneuerung des Kaisertums anders ausgefallen wäre, wenn man die Abstimmenden ausschließlich aus dem Kreise der Gelehrten und Gebildeten genommen hätte. Man erwirbt durch die Kenntnis des Griechischen oder der Mathematik, dadurch, dass man Architekt, Tierarzt, Arzt oder Advokat ist, keine besondere Einsicht in Fragen des Gefühls. Alle unsere Nationalökonomen sind gelehrte Leute, in der Mehrzahl Professoren und Akademiker. Gibt es nun eine einzige allgemeine Frage, wie z. B. das Schutzzollsystem, in der sie übereinstimmten? Vor den sozialen Fragen, die voll sind von vielfachen Unbekannten und der Geheim- und Gefühlslogik unterliegen, gleichen sich alle Unwissenheiten aus.

Wenn also auch nur von Gelehrsamkeit strotzende Wähler den Wahlkörper bildeten, so würden ihre Abstimmungen doch nicht besser sein als die von heute. Sie würden sich vor allem durch ihre Gefühle und ihren Parteigeist leiten lassen. Wir hätten nicht eine Schwierigkeit weniger als jetzt und obendrein die harte Tyrannei der Kasten.

Ob nun das Wahlrecht beschränkt oder allgemein ist, ob es in einem republikanischen oder in einem monarchischen Lande herrscht, ob es in Frankreich, Belgien, Griechenland, Portugal oder Spanien gilt, überall ist das Wahlrecht der Massen ähnlich und gibt oft die unbewußten Ansprüche und Bedürfnisse der Rasse wieder. Der Durchschnitt der Gewählten stellt für jedes Volk die Durchschnittsseele seiner Rasse dar, die von einer Generation zu andern so ziemlich die gleiche bleibt.

Und so kommen wir wiederum auf diesen Grundbegriff der Rasse zurück, dem wir schon so oft begegnet sind, und auf den anderen daraus abzuleitenden Gedanken, dass im Völkerleben die Einrichtungen und Regierungsformen nur eine sehr unwesentliche Rolle spielen. Die Völker werden vor allem durch die Rassenseele geleitet, d. h. durch die Ansammlung von Erbmasse, deren Summe diese Seele bildet. Die Rasse und das Getriebe der täglichen Bedürfnisse: das sind die geheimnisvollen Mächte, die unsere Geschicke lenken.


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