§ 3. Die Einbildungskraft der Massen


Die auffallende Einbildungskraft der Massen ist, wie bei allen Wesen, für die logisches Denken nicht in Frage kommt, leicht aufs tiefste zu erregen. Die Bilder, die in ihrem Geist durch eine Person, ein Ereignis, einen Unglücksfall hervorgerufen werden, sind fast so lebendig wie die wirklichen Dinge. Die Massen befinden sich ungefähr in der Lage eines Schläfers, dessen Denkvermögen im Augenblick aufgehoben ist, so dass in seinem Geist Bilder von äußerster Heftigkeit aufsteigen, die sich aber schnell verflüchtigen würden, wenn die Überlegung mitzureden hätte. Für die Massen, die weder zur Überlegung noch zum logischen Denken fähig sind, gibt es nichts Unwahrscheinliches. Vielmehr, die unwahrscheinlichsten Dinge sind in der Regel die auffallendsten.

Daher werden die Massen stets durch die wunderbaren und legendären Seiten der Ereignisse am stärksten ergriffen. Das Wunderbare und das Legendäre sind tatsächlich die wahren Stützen einer Kultur. Der Schein hat in der Geschichte stets eine größere Rolle gespielt als das Sein. Das Unwirkliche hat stets den Vorrang vor dem Wirklichen.

Die Massen können nur in Bildern denken und lassen sich nur durch Bilder beeinflussen. Nur diese schrecken oder verführen sie und werden zu Ursachen ihrer Taten. Darum haben auch Theatervorstellungen, die das Bild in seiner klarsten Form geben, stets einen ungeheuren Einfluß auf die Massen. Für den römischen Pöbel bildeten einst Brot und Spiele das Glücksideal. Dies Ideal hat sich im Laufe der Zeiten wenig geändert. Nichts erregt die Phantasie des Volkes so stark wie ein Theaterstück. Alle Versammelten empfinden gleichzeitig dieselben Gefühle, und wenn sie sich nicht sofort in Taten umsetzen, so geschieht das nur, weil auch der unbewußte Zuschauer nicht im Zweifel sein kann, dass er das Opfer einer Täuschung ist und über eingebildete Abenteuer geweint oder gelacht hat. Manchmal jedoch sind die Gefühle, die durch diese Bilder suggeriert werden, stark genug, um wie die gewöhnlichen Suggestionen danach zu streben, sich in Taten umzusetzen. Man hat schon oft die Geschichte von jenem Volkstheater erzählt, das den Schauspieler, der den Verräter spielte, nach Schluß der Vorstellung schützen mußte, um ihn den Angriffen der über seine vermeintlichen Verbrechen empörten Zuschauer zu entziehen. Das ist meiner Meinung nach eins der treffendsten Beispiele für den geistigen Zustand der Massen, und besonders für die Leichtigkeit, mit der man sie beein-flußt. Das Unwirkliche ist in ihren Augen fast ebenso wichtig wie das Wirkliche. Sie haben eine auffallende Neigung, keinen Unterschied zu machen.

In der Phantasie des Volkes ist die Macht der Eroberer und die Kraft der Staaten begründet. Wenn man auf sie Eindruck macht, reißt man die Massen mit. Alle bedeutenden geschichtlichen Ereignisse, die Entstehung des Buddhismus, des Christentums, des Islams, der Reformation, der Revolution und in unserer Zeit das drohende Hereinbrechen des Sozialismus sind die unmittelbaren oder mittelbaren Folgen starker Eindrücke auf die Phantasie der Massen.

Auch die großen Staatsmänner aller Zeiten und Länder, die unumschränkten Gewaltherrscher einbegriffen, haben die Volksphantasie als Stütze ihrer Macht betrachtet. Niemals haben sie versucht, gegen sie zu regieren. "Ich habe den Krieg in der Vendée beendigt, indem ich katholisch wurde", sagte Napoleon im Staatsrat, "in Ägypten habe ich dadurch Fuß gefaßt, dass ich mich zum Mohammedaner machte, und die italienischen Priester gewann ich, indem ich ultramontan wurde. Wenn ich über ein jüdisches Volk herrschte, würde ich den Salomonischen Tempel wieder aufbauen lassen." Seit Alexander und Cäsar hat es vielleicht niemals ein großer Mann besser verstanden, Eindruck auf die Massenseele zu machen; es war Napoleons ständige Sorge, sie zu beeinflussen. Von ihr träumte er bei seinen Siegen, in seinen Reden, seinen Abhandlungen, bei all seinen Taten — und noch auf seinem Totenbett träumte er davon.

Wie macht man Eindruck auf die Phantasie der Massen? Wir werden es gleich sehen. Einstweilen sei nur gesagt, dass dieser Zweck nie durch den Versuch erreicht wird, auf Geist und Vernunft zu wirken. Antonius brauchte keine gelehrte Rhetorik, um das Volk gegen Cäsars Mörder aufzuwiegeln. Er las ihnen Cäsars Testament vor und zeigte ihnen seinen Leichnam.

Alles, was die Phantasie der Massen erregt, erscheint in der Form eines packenden, klaren Bildes, das frei ist von jedem Deutungszubehör und nur durch einige wunderbare Tatsachen gestützt: einen großen Sieg, ein großes Wunder, ein großes Verbrechen, eine große Hoffnung. Sie pflegt die Dinge in Bausch und Bogen aufzunehmen und ohne jemals ihre Entwicklung zu beachten. Hundert kleine Verbrechen oder hundert kleine Unfälle werden auf die Phantasie der Massen oft nicht die geringste Wirkung ausüben; wohl aber wird sie durch ein einziges unerhörtes Verbrechen, ein einziges großes Unglück tief erschüttert, wenn es auch viel weniger blutig ist als die hundert kleinen Unfälle zusammengenommen. Die große Grippe-Epidemie, an der vor einigen Jahren in Paris fünftausend Menschen innerhalb weniger Wochen starben, machte auf die Volksphantasie wenig Eindruck. Freilich wandelte sich diese Hekatombe im wahrsten Sinne nicht in einige sichtbare Bilder, sondern nur in die täglichen statistischen Berichte um. Ein Unglücksfall, der statt fünftausend nur fünfhundert Menschenleben kostet, aber an einem einzigen Tage, auf einem öffentlichen Platz, in einem sichtbaren Geschehnis einträte, z. B. der Einsturz des Eiffelturms würde einen ungeheuren Eindruck auf die Einbildungskraft gemacht haben. Der mutmaßliche Verlust eines Ozeandampfers, von dem man irrtümlich glaubte, er sei auf hoher See untergegangen, erregte die Massenphantasie acht Tage lang außerordentlich. Die Statistik zeigt nun aber, dass in demselben Jahre tausend große Schiffe Schiffbruch erlitten. Aber um diese allmählichen Verluste, die auf andre Art recht erhebliche Opfer an Menschenleben und Handelswerten forderten, kümmerten sich die Massen keinen Augenblick.

Also nicht die Tatsachen als solche erregen die Volksphantasie, sondern die Art und Weise, wie sie sich vollziehen. Sie müssen durch Verdichtung — wenn ich so sagen darf — ein packendes Bild hervorbringen, das den Geist erfüllt und ergreift. Die Kunst, die Einbildungskraft der Massen zu erregen, ist die Kunst, sie zu regieren.


 © textlog.de 2004 • 19.03.2024 03:13:51 •
Seite zuletzt aktualisiert: 08.12.2006 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright