§ 4. Die Vernunft


Bei der Aufzählung der Faktoren, die imstande sind, die Massenseele zu erregen, könnten wir uns die Erwähnung der Vernunft ersparen, wenn man nicht den negativen Wert ihres Einflusses aufzeigen müßte.

Wir haben bereits festgestellt, dass die Massen durch logische Beweise nicht zu beeinflussen sind und nur grobe Ideenverbindungen begreifen. Daher wenden sich auch die Redner, die Eindruck auf sie zu machen verstehen, an ihr Gefühl und niemals an ihre Vernunft. Die Gesetze der Logik haben keinerlei Einfluß auf sie.*) Um die Massen zu überzeugen, muß man sich zunächst genau Rechenschaft geben über die Gefühle, die sie beseelen, muß den Anschein erwecken, dass man sie teilt, dann versuchen, sie zu verändern, indem man mittels angedeuteter Ideenverbindungen gewisse zwingende Bilder hervorruft; ferner muß man im Notfall sein Vorhaben aufgeben können, und vor allen Dingen jeden Augenblick die Gefühle erraten, die man erweckt. Diese Notwendigkeit, seine Ausdrucksweise je nach dem erzielten Erfolg im Augenblick zu verändern, verurteilt jede vorbereitete und eingelernte Rede von vornherein zur Wirkungslosigkeit. Der Redner folgt seinen eignen Gedanken, nicht denen seiner Zuhörer und verliert schon allein durch diese Tatsache jeden Einfluß.

Die logischen Köpfe, die an die ziemlich knappen Schluß-ketten der Vernunft gewöhnt sind, können sich nicht enthalten, ihre Zuflucht zu dieser Überzeugungsweise zu nehmen, wenn sie sich an die Massen wenden, und sind immer wieder über das Fehlschlagen ihrer Beweise überrascht. "Die gewöhnlichen mathematischen Schlüsse, die sich auf den Syllogismus, d. h. auf Identitätsketten gründen, sind notwendig", schreibt ein Logiker ... "Ihre Notwendigkeit würde selbst die Zustimmung einer anorganischen Masse erzwingen, wenn sie den Identitätsketten folgen könnte." Gewiß; aber die Menge ist ebensowenig imstande ihnen zu folgen oder sie auch nur zu verstehen wie die anorganische Masse. Man mache z. B. den Versuch, primitive Wesen, Wilde oder Kinder, durch ein logisches Urteil zu überzeugen, und man wird einsehen, wie wenig Wirkung diese Beweisführung hat.

Man braucht nicht einmal bis zu den primitiven Wesen hinabzusteigen, um die völlige Ohnmacht der Logik im Kampf gegen Gefühle festzustellen. Erinnern wir uns nur daran, wie hartnäckig sich viele Jahrhunderte hindurch die religiösen Vorurteile gehalten haben, die der einfachsten Logik widersprechen. Fast zweitausend Jahre lang beugten sich die aufgeklärtesten Geister unter ihre Gesetze, und erst in der modernen Zeit war es überhaupt möglich, ihre Wahrheiten anzuzweifeln. Das Mittelalter und die Renaissance hatten genug aufgeklärte Köpfe, aber nicht ein einziger war darunter, dem die Vernunft die kindischen Seiten seines Aberglaubens enthüllt und auch nur einen leisen Zweifel an den Bosheiten des Teufels oder an der Notwendigkeit der Hexenverbrennungen wachgerufen hätte.

Ist es zu bedauern, dass die Massen nie von der Vernunft geleitet werden? Wir wagen es nicht zu behaupten. Der menschlichen Vernunft wäre es wahrscheinlich nicht gelungen, die Menschheit mit derselben Glut und Kühnheit die Bahnen der Kultur zu führen, zu der ihre Trugbilder sie fortgerissen haben. Die Trugbilder waren Erzeugnisse des Unbewußten, von dem wir geleitet werden, und sie waren wahrscheinlich notwendig. Jede Rasse birgt in ihrer geistigen Verfassung die Gesetze ihres Schicksals, und vielleicht gehorcht sie diesen Gesetzen infolge eines untrüglichen Instinktes auch dann, wenn ihre unvernünftigsten Äußerungen in Erscheinung treten. Es scheint manchmal, als ob die Völker geheimen Kräften unterworfen wären, gleich jenen, die die Eichel in eine Eiche umwandeln oder den Kometen zwingen, seine Bahn einzuhalten.

Das wenige, was wir über diese Kräfte erforschen können, muß in dem allgemeinen Entwicklungsgang der Völker gesucht werden und nicht in den einzelnen Tatsachen, aus denen sich diese Entwicklung zu ergeben scheint. Würde man nur diese einzelnen Tatsachen in Betracht ziehen, so schiene es, als sei die Geschichte von ungereimten Zufällen beherrscht. Es war unglaubhaft, dass ein unwissender Zimmermann aus Galiläa zweitausend Jahre hindurch zu einem allmächtigen Gott werden konnte, in dessen Namen die bedeutendsten Kulturen gegründet wurden; unglaubhaft war es auch, dass einige arabische Horden, die ihre Wüste verließen, den größten Teil der alten griechisch-römischen Welt erobern konnten; unglaubhaft war es endlich, dass in einem sehr gealterten und in Rangordnungen festgelegten Europa ein einfacher Artillerieleutnant es zuwege brachte, über eine große Anzahl von Völkern und Königen zu herrschen.

Überlassen wir also die Vernunft den Philosophen, aber verlangen wir nicht von ihr, dass sie sich allzuviel in die Regierung der Menschen einmische. Nicht vermöge, sondern oft trotz der Vernunft bildeten sich Gefühle wie Ehre, Entsagung, religiöser Glaube, Ruhmes- und Vaterlandsliebe, die bis heute die großen Triebfedern aller Kultur gewesen sind.

 

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*) Meine ersten Beobachtungen über die Kunst der Massenbeeinflussung und die schwachen Hilfsmittel, die die Logik in dieser Beziehung bietet, machte ich während der Belagerung von Paris, an dem Tage, an dem ich den Marschall V ... nach dem Louvre, dem Sitz der damaligen Regierung, bringen sah, weil eine wütende Volksmenge ihn dabei überrascht haben wollte, als er den Festungsplan entwendete, um ihn den Preußen zu verkaufen. Ein Regierungsmitglied, G. P. ..., ein berühmter Redner, trat heraus, um eine Ansprache an die Massen zu halten, die die unverzügliche Hinrichtung des Gefangenen verlangten. Ich erwartete, der Redner werde die Unsinnigkeit der Beschuldigung durch die Feststellung beweisen, dass der angeklagte Marschall ausgerechnet einer der Konstrukteure der Befestigung sei, deren Plan man übrigens in allen Buchhandlungen kaufen konnte. Zu meiner großen Verblüffung — ich war damals noch sehr jung — lautete die Rede ganz anders: "Dem Recht wird Genüge geschehen", rief der Redner, indem er auf den Gefangenen zuging, "wird in unerbittlicher Weise Genüge geschehen. Laßt die Regierung der nationalen Verteidigung eure Sache durchführen; einstweilen werden wir den Angeklagten einsperren." Durch diese scheinbare Genugtuung besänftigt, zerstreute sich die Menge, und der Marschall konnte schon nach Verlauf einer Viertelstunde seine Wohnung aufsuchen. Sicherlich wäre er totgeschlagen worden, wenn sein Verteidiger der wütenden Menge die logischen Beweisgründe vorgehalten hätte, die meine große Jugend sehr überzeugend fand.


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