Palmström der Vermehrte
Daß Morgensterns ›Galgenlieder‹ in achter und sein ›Palmström‹ nun in sechster Auflage vorliegen, freut einen doch. Denn das heißt immerhin, dass es in Deutschland zwanzigtausend Leute gibt – Käufer und Leser – die an derlei Dingen Vergnügen empfinden. Woran?
Sicher nicht nur an der unheimlichen Kunst, so Kompliziertes in fabelhafte Verse zu fassen. Denn das gehört ja doch dazu: es genügt nicht, solche Ideen einmal in einer närrischen Stunde zu haben – dazu gehört nun noch die andre ruhige, seriöse Stunde, den Rauch in Klumpen zu ballen. Krischan kanns.
Und ist es denn wirklich nur Rauch? Nebel? Wolken?
Es ist viel, viel mehr. Mir scheint, abgesehen von den sprachlichen Witzen, von der großen technischen Fähigkeit, Sinnloses in Goetheschem Ton vorzutragen, eine Art Aufhebung der Kausalität das beste an den Bändchen zu sein. Das ist ein schmerzliches Ding: wir wissen doch alle, dass wir darunter stehen, dass nun mal leider ein Federhalter nicht in der Luft hängen bleibt, sondern zu Boden fällt, fallen muß, mag ihn Napoleon oder Bethmann Hollweg loslassen. Vor der Kausalität sind wir alle gleich. Wir wollen aber nicht gleich sein. Nichts ist uns verhaßter, als eingereiht zu werden, nichts widerlicher als der Zustand, das äußere Gebaren, woran der Bürger sehen kann, was wir vorhaben. (Daher unsre Scheu vorm Reisegepäck auf der Straße. »Aha, der verreist auch!«) Aber wir können nicht los.
Und deswegen lassen wir uns von den ganz großen Exzentriks vortäuschen, wir könnten los. Sie heben scheinbar die Kausalität auf: sie zeigen, dass es einen Kausalzusammenhang nicht gebe. Und wir glauben ja so gern.
So ist Morgenstern. Die schöne Sinnlosigkeit! Da ist eine Geschichte in der neuen vermehrten Auflage, die heißt ›Die Mausefalle‹ und fängt so an: »Palmström hat nicht Speck im Haus dahingegen eine Maus.«
Abgesehen von dem herrlichen ›Dahingegen‹ – diese Geschichte scheint Mir das darzutun, was ich eben auseinandersetzte. »Korf, bewegt von seinem Jammer, baut ihm eine Gitterkammer.« Aber nicht etwa eine Mausefalle im realen Sinn. In Korfs Gebäude muß sich Palmström hineinsetzen – des Nachts – und muß geigen. Und als er so konzertiert – richtig: fällt die Maus auf ihn herein. Da sitzen nun beide in der geschlossenen Falle. Wenn das Gedicht hier aufhörte: dieses Schweigen von Mensch und Tier in der Nacht hat etwas so Erschütterndes, dass man kaum noch lachen kann. Aber nein: römisch II. Korf lädt sie alle drei – die Falle, Palmström und die Maus – auf einen Möbelwagen und fährt sie in den Wald. Hier wird ausgeladen: »Erst spaziert die Maus heraus, und dann Palmstrom, nach der Maus.« Die Maus? Nun, sie genießt die Freiheit. Palmstrom aber fährt glücklich heim.
Dieser Aufwand, der hier vertan wird, sei gesegnet. Denn wer ihn zu vertun hat, ist besser daran als der Arme.
Dies und ›Die Zeit‹ scheinen mir die besten der hinzugekommenen Gedichte. Die Zeit, die, beobachtet man sie, langsam daherschleicht, kaum aber fühlt sie sich unbelauscht, so tobt sie davon, geht durch. Ein Menschenblick und – »Unschuldig lächelnd macht sie wieder die zierlichsten Sekunden-Pas«.
Aber da sehe ich noch die ›Lämmerwolke‹ und den ›Folianten‹ und ›Unverbürgtes Gerücht‹ und muß doch sagen, dass jedes das beste ist.
Peter Panter
Die Schaubühne, 11.09.1913, Nr. 37, S. 876.