Napoleon der Zweite
Für Pallenberg
Gestern fand hier im Olympia-Theater die Uraufführung einer Komödie ›Napoleon der Zweite‹ von Adalbert Cynthius statt. Max Pallenberg spielte die Titelrolle.
Das war im Dezember 1808, da stand Napoleon mit Soult in Huesca, einer mittleren Provinzialstadt Nordspaniens. Er kam von Madrid und wollte nach Paris zurück. Und das eiligst, denn in Preußen gingen allerhand Dinge vor, die man aus nächster Nähe zu betrachten hatte. Andrerseits aber lagen die Verhältnisse in Spanien nicht so, dass die Gegenwart des Kaisers ohne weiteres entbehrt werden konnte. Die Bevölkerung gab nur Ruhe, wenn sie IHN in der Nähe wußte, und auch die Engländer wurden bei seiner Anwesenheit, die sie ja durch ihre Spione feststellen konnten, wenigstens einigermaßen in Schach gehalten. Aber Paris rief.
Das hat man erfahren, wenn der Vorhang ein paar Minuten oben ist. Die Hofleute erzählen sichs im Vorsaal, und immer so, dass stets der eine Part der Unterhaltung noch nicht von dem unterrichtet ist, was ihm der andre sagen wird. Sie rekapitulieren keine notwendige Exposition, sie teilen sich wichtige Neuigkeiten mit. Geffroy erscheint, ein kleiner rothaariger Kammerdiener Napoleons. Er ist feige, wie sich zeigt, häßlich und ein bescheidener Kriecher. Kleine Liebesszene zwischen ihm und der Zofe Marguerite. Die Zofe will ihn nicht. Rote Haare – pfui! Er wird zudringlich, sie wehrt sich. Plötzlich fahren sie auseinander. Aus dem Nebenzimmer hört man die erregte Stimme des Kaisers aus der Beratung. »Aber was tun?« Eine scharfe, durchdringende Stimme. Vielleicht der eindringlichste Napoleon, der je auf einer Bühne stand, weil man ihn nicht sieht. Es ist mäuschenstill, der kleine Rotkopf lauscht mit offenem Mund. »Aber was tun?« sagt der Kaiser. »Man braucht mich hier, man braucht mich in Paris. Hier dringend, in Paris dringender.« Die Herren machen mit gedämpfter Stimme Vorschläge. »Ah bah!« – er verwirft alle. »Nein, nein, wir müssen einen Ersatzmann haben. Einen fürs Volk, eine Puppe! Einen Fetisch für die Truppen, für die Ausfahrten!« Drin ists still. Der Rothaarige feixt. »Wenn er nur meine Gestalt hat – das andre wird schon François besorgen.« François ist der Hoffriseur. Stimmengewirr klingt herüber, man scheint einverstanden, einer ruft: »Aber wen?« – »Aber wen?« rufen jetzt alle. Und da geht wahrhaftig die Tür auf, einer der Marschälle will wohl die Beratung für eine Minute verlassen, sein Blick fällt auf den Kleinen, der sich eifrig an den Möbeln zu schaffen macht. »Aber meine Herren!« ruft er wohlgelaunt, »Sire! hier bringe ich Ihnen den andren Napoleon, Napoleon den Zweiten!« Und schleppt Geffroy herein. Die Bühne ist jetzt leer, ein dröhnendes Lachen wird aus dem Nebenzimmer hörbar. Das ist ein Witz! Selbst der Kaiser lacht. Dann sagt er ungeduldig: »François soll kommen! Und Sie, Soult, geben dem kleinen Mann hier die nötigen Instruktionen. Sie kennen mich ja. Guten Morgen, meine Herren!« – »Guten Morgen, Sire!« Und in die Stille, die beim Fortgang des Kaisers entsteht, ertönt die meckernde Stimme des Kleinen: »Wird es bezahlt, meine Herren, wird es bezahlt?«
Was dann folgt, ist eine ungeheuerliche Verhöhnung jedes Königtums, ein Witz auf den Selbstherrscher, eine Karikatur auf alle Throne der Welt.
Der Kaiser ist heimlich abgereist und hat Geffroy an seiner Stelle zurückgelassen. Und man kann nicht sagen, dass er seine Rolle schlecht spiele. Oh nein, er mimt sie sogar sehr exakt, vielleicht ein bißchen zu genau. Denn in dieses Vogelhirn ist alles Äußerliche erschreckend eingegangen – er hat dem großen Vormann das Erforderliche abgeguckt; er geht wie er mit gekreuzten Armen im Zimmer auf und ab; wie er läutet er dem Diener, zornig, schrill, nervös; wie er streicht er sich müde die schwarze Perückenlocke aus der Stirn.
Er machts gut, und für die Volksstaffage reichts auch. Im Schloß ists schon beschwerlicher: hier ist der Schwindel doch zu plump, als dass er nicht herauskäme. Man darf ihm also nicht auf den Leib rücken: der Kaiser ist unpäßlich, empfängt nicht oder nur die Intimen. So gehts schon.
In das noch leere Sitzungszimmer mit den hochlehnigen, ledergepreßten Stühlen wankt das Stückchen Unglück. Eine Scheuche in einem Panzer: der große Napoleon schlottert um den kleinen Geffroy. Dabei sitzt der dunkelgrüne Frack wie angegossen, die weißen Hosen sind prall gespannt, die Stiefel blitzen. Ach, und er ist so durchdrungen von seiner Würde! Es ist ihm richtig nach innen geschlagen: er glaubt sich das Abenteuer und hält sich wahrhaftig für den Kaiser in Person. Generale kommen, gehen zum Schein in das Beratungszimmer, damit die Dienerschaft sie hereingehen sehe, räkeln sich müßig auf den Sitzen, lesen sich halblaut Briefe vor und plaudern, denn man muß auf die Lauscher an der Wand Rücksicht nehmen. Das Schweigen könnte auffallen. Aber schließlich genüge es doch, meinen sie, wenn man das Spiel so weit treibt: weiter gehts nicht, und sie unterhalten sich ganz ungeniert über das Wetter und die spanischen Frauen und die Fertigkeiten des zweiten Kochs. Nicht so Max Pallenberg. Der ist überzeugt, wirklich die Geschicke zu lenken, wenn er in seinem geliehenen Frack herumspaziert. Und wie stelzt er einher! Welch ein Tyrann aus zweiter Hand! Wie kann er die Augenbrauen bis zur Unwahrscheinlichkeit hochziehen, wie kann er blitzende Blicke um sich streuen! Welch eine Geschäftigkeit im Unterzeichnen von Todesurteilen: wie ein Affe setzt der kleine Mann auf Bogen und Bogen des riesigen Aktenstapels seinen Namen und starrt die gloriose Unterschrift zärtlich an. Er gibt Befehle, er geht zum Tisch, blättert in den Karten, deren Sprache er gar nicht versteht – niemand kümmert sich um ihn. Köstlicher Moment: er sieht sich rings im Kreise um. »Meine Herren«, spricht er – der Tonfall ist täuschend echt – »meine Herren, dann werden wir eben den Weg über Torrelapaja nehmen!« Man zuckt die Achseln, liest und plaudert weiter. Geffroy Bonaparte stellt sich vor einen General hin und berät mit ihm, der sich die Nägel reinigt und gar nicht zuhört, die Sicherung der Vorposten. »Wird geändert. Eben neue Kette aufziehen. Esel.« Dann stürmt er zur Klingel und schellt. Im Nu ist das Bild verwandelt: vor den Dienern muß die Komödie aufrecht erhalten werden. Alle drängen sich um den Sitz des Kleinen, einer schiebt ihm das Schachbrett vor, und er spielt, spielt die ganze Partie mit sich selbst und führt wilde Reden. Der Diener mit den Karaffen verschwindet wieder, und Napoleon der Zweite stößt mit einer emphatischen Bewegung, wie er sie oft bei dem Ersten gesehen hat, das Spielbrett vom Tisch. Und alle wenden sich wieder ihren früheren Beschäftigungen zu und ignorieren den Kaiser vollständig.
Und am Schluß dieses Aktes, wenn man sein Mitleid mit dieser armseligen Kreatur kaum noch verbergen kann, eine gute Steigerung. Volksgemurmel hinter der Szene: die Soldaten glauben nicht, dass der Kaiser noch da ist – die Soldaten wollen ihn sehen. Eine Ansprache! eine Ansprache! Und der Kleine wird vorgeschoben auf den Altan, hinter ihn tritt einer mit dem Manuskript, und er redet eine Rede. Durch einen Schleier von Lach- und Rührungstränen sieht man ihn gestikulieren, man hört große und bombastische Worte, er versteht den Souffleur nicht ordentlich, beugt sich weit vor und ist doch so stolz! Und die Soldaten scheinen halbwegs befriedigt, sie ziehen ab, auch der Versager, und die andern sind längst weggegangen, aber er steht noch immer oben und winkt leutselig, herablassend ins Freie. Und kommt ins Zimmer zurück und sagt erschüttert: »Wie sie mich lieben!«
Aber einen Vorteil greifbarer Art hat ihm sein Kaisertum doch eingebracht; das ist die Zofe Marguerite. Sie ist ihm – im dritten Akt – aufs Feld nachgelaufen, wo er (um Gotteswillen!) zu Pferde eine Truppenparade abhalten soll. Noch ist er allein – sie schlich ihm nach – er imponiert ihr. Wenn sie auch nie geglaubt hat, dass dies der Kaiser sei: es reizt sie doch, dass der Kleine so keck ist, ihn zu markieren. Und sie küßt ihn richtig, denn er ist doch vor der Welt Napoleon, und er ist schon so übergeschnappt, dass er sie nur noch mit »Meine liebe Tochter« haranguiert. Dazwischen ein süßer Anachronismus; er summt piano das letzte Lied des erschossenen Fragson: »Si tu veux mon bonheur, Marguerite … !« Und dann verschwindet er, und die Truppen ziehen auf, Trommeln wirbeln und das »Vive l'empereur!« hat nie ironischer geklungen als hier, da es einem Schemen dargebracht wurde.
Durch das Gewühl bahnt sich ein Bote den Weg: ein Brief des Kaisers entthront seinen Kollegen! Man bedarf seiner nicht mehr, Soult solle nach Oporto gehen, den Ersatzmann möge man ein bißchen aufs Feld herausfahren und ihn – in jeder Beziehung – absetzen. Es ist aus!
Und das tut man denn auch; und wie in diesem Nachspiel Pallenberg ganz allein auf dem kalten Feld hockt, wie er immer noch nicht begreift, dass der schöne Traum nur ein Traum war, dass er nun nie, nie, nie wieder dem Diener läuten, seine treuen Soldaten begrüßen, die Völker lenken dürfe: das greift einem ans Herz. Die Zofe huscht spottend vorbei, er streckt die Arme nach ihr aus, aber sie höhnt ihn, und durch den Abendwind klingt ihr Lachen: »Petit caporal! petit caporal!« Und er sitzt da, den riesigen Mantel fast bis übers Gesicht gezogen, in der Hand eine kleine Bonbondose, aus der er als Napoleon so oft Süßigkeiten genascht hat, tastend fühlt er sie ab, sie ist leer, er läßt sie zu Boden fallen und sagt ganz leise, wimmernd, traurig: »Aber ich war doch ein Kaiser! Ich war doch ein Kaiser!«
Jawohl! Olympia-Theater, Cynthius, Bonaparte in Duodez, Berlin! Das Theater gibts nicht. Existierte es, wäre es längst wieder im Konkurs. So ein lustiges Stück muß erst geschrieben werden. Und Pallenberg torkelt in Machwerken übelster Beschaffenheit umher, verspritzt sich und seine große Begabung und wirft die Perlen vors Parkett.
Kurt Tucholsky
Die Schaubühne, 11.06.1914, Nr. 23, S. 623.