Aus den Tagen von Sedan
(C. Lemonnier: »Aus den Tagen von Sedan«. Verlag Axel Juncker, Berlin)
Dies Buch ist eines der wenigen aus der antimilitaristischen Literatur, die künstlerisch überhaupt in Betracht kommen. Bertha v. Suttner, die sonst eine gute Seele, aber eine schlechte Musikantin ist, hat zu Lemonniers Werk eine ausgezeichnete Vorrede geschrieben. »Nicht das grimme Gelage wird uns vorgeführt«, heißt es darin, »nur die Anordnung der geleerten Schüsseln und der umgeworfenen Gläser auf dem besudelten Tischtuch. Bazeilles … Sedan … Es ist eine alte, durch den Geschichtsunterricht eingeprägte Denkgewohnheit, solche Ortsnamen, an die sich eine Kriegserinnerung knüpft, eigentlich nicht mehr als Ortsnamen aufzufassen, sondern als die Symbolisie-rung großer Ereignisse und heftiger Gefühle von Ruhmesstolz oder Rachezorn. Man spreche das Wort Sedan aus und 100000 Deutsche sind dabei siegesfreudig -100000 Franzosen schmerzlich grollend – bewegt, und die Schüler und Schülerinnen der ganzen Welt hören in den zwei Silben den historischen Klang. – Daß es ein Stückchen Erdboden ist mit ein paar Häusern darauf, wo zwei unglückselige Häuflein Menschen einander zerfleischten; und wie dieser Boden, der wahrscheinlich zerstampft, wie diese Häuser, die wahrscheinlich niedergebrannt sind, ausgeschaut haben … «
Lemonnier sagt selbst von seinem Buch, es bestehe nur aus losen Notizen. »Nur« – diese Aufzeichnungen sind fabelhaft scharf gesehen, wie gute Skizzen: unter Hinweglassung alles Unwesentlichen. Wie fein ist es, dass sich Lemonnier jeder chauvinistischen Aufwallung enthält, dass zwischen den Zeilen nicht der Aufschrei erklingt: diese Deutschen! – sondern: der Krieg! Einmal, an einer Stelle, als er etwas Widerwärtiges von zwei deutschen Offizieren berichtet, heißt es: »Die Einzelheiten, deren ich in diesen Aufzeichnungen Erwähnung tue, sollen nichts anderes bezwecken, als das Verhalten des Siegers in eroberten Ländern darzutun: sie richten sich weder gegen den einzelnen noch gegen eine Nation.« –
Lemonnier ist durch die Schlachtfelder von Bazeilles und Sedan gewandert, und da sah er: ein Leichnam lag da, halb verfault, mit einem grünlichen Grinsen auf dem Gesicht, seine Lider regten sich, weil Würmer auf ihm herumkletterten … das Lazarett mit den brüllenden, kreischenden, fluchenden Menschenteilen, denn das waren nicht mehr Menschen, Chloroform war nicht vorhanden, einem Turko wurde bei voller Besinnung ein Bein abgesägt, und durch den scheußlichen Lärm der anderen drang das Knirschen der Säge … die endlosen Züge zerlumpter, halbtoter Gefangener – oder er ließ sich erzählen, wie sie das Mädchen in der Hütte vergewaltigten, sie hatten sie an den Tisch gebunden, die Eltern, die sich unter die Betten verkrochen hatten, mußten dem Scheußlichen zusehen … Pferde krochen über das Feld, blutend mit aufgerissenen Mäulern, manchen hingen die Eingeweide heraus … »die Mutter des Neugeborenen war, kaum genesen, aus ihrem Bett gerissen und mit Säbelhieben davongejagt worden. Vor Schreck war die Milch in ihrer Brust versiegt: mechanisch knetete sie ihr mütterliches Fleisch wie eine ausgepreßte Frucht.« Und einmal, als er von einer Sanitätskolonne spricht, sagt er – und das ist der beste Vergleich des ganzen Buches: »Über all diesem Jammer flatterte die schmutzig-weiße Fahne des Roten Kreuzes wie die Schürze eines Metzgergehilfen.«
Der (Tendenz-)Wert dieses Buches liegt auf der Hand. Die Suttner sagt in der Vorrede: »Es mag auf viele Leser so wirken, wie es der Friedensbewegung frommt – aber dann geschieht es ohne des Autors Vorwissen.« Und dann: »Daß der Krieg voller Greuel ist, wissen auch seine Anhänger – sie halten ihn nur für unvermeidlich.«
Die Suttner hat mit Lemonnier nichts zu tun. Sie hat in ihren (ein wenig sentimentalen) Büchern die letzte Ursache der Kriege, die wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft, viel zuwenig berücksichtigt. Lemonnier, dieser große Künstler, spricht tiefste psychologische Erkenntnisse nicht aus, sondern er läßt sie uns von neuem finden.
Ich müßte das Buch abschreiben, wollte ich alles Schöne daraus erzählen. Briefe von Gefallenen sind darin, Reden, Gegenreden, die Luft dieser vergangenen Zeit ist wieder da …
Aber was nützt das alles: es sind selten über dieses Thema bessere Bücher geschrieben worden (eins: Andrejew, »Das rote Lachen«, in der wundervollen Nachdichtung von August Scholz, das gewaltigste, furchtbarste von allen). Goethe hat zu Eckermann oft über den Chauvinismus aburteilend gesprochen, seitdem haben fast alle Großen den Krieg mit verabscheuenden Worten bedacht –: alles ist geblieben.
Daß wir hier an einen wunden Punkt rühren, beweist das Verhalten der Regierungen. Mit unerbittlicher Strenge sind sie hinter den Antimilitaristen her, sie fühlen, wenn die Hunderttausende erst einmal aus diesen Büchern gelernt haben, für welche Schemen (oder wessen Portemonnaie) sie sterben, dann ist es aus. Dann werden auch die Schlagworte: Ruhm, Vaterland, Ehre nicht mehr ziehen, dann wird der französische Arbeiter nicht mehr auf deutsche Kollegen schießen.
Und gerade hier läuft alles Spintisieren auf das Politische hinaus. Lemonnier hat (nach Andrejew) das künstlerisch Stärkste gegen den Krieg geschrieben. Praktisch heißt es für uns, daraus die Konsequenzen zu ziehen und dem Krieg den Krieg zu erklären.
K.T.
Vorwärts, 09.01.1912, Nr. 6, S. 20.