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Zwei Welten

Wer einen Beruf ergreift, dem macht er Spaß; wer von ihm ergriffen wird, der arbeitet sich so dahin. Weil nun aber der deutsche Sinn danach strebt, eine Nummer eins zu sein – wie halten die Leute das aus? Schließlich sind doch die meisten: angestellt, hingestellt zu einer Muß-Arbeit, die sie bestimmt nicht ausübten, hätte man sie gefragt; Kettenglieder sind es, Stufen für den Aufstieg anderer. Das ist wenig schön.

Ganz abgesehen von dem kleinen Hilfsmittel der Titel, die nach Möglichkeit gegen die sprachliche Pejoration arbeiten, aus einem Gerichtsdiener einen Justizwachtmeister, aus einem Knecht einen landwirtschaftlichen Angestellten machen, gibt es noch etwas anderes, ohne das die meisten Menschen nicht leben könnten. Sie leben in zwei Welten.

Sie leben – zwischen neun Uhr morgens und sechs Uhr nachmittags – in ihrer Bureauwelt, in ihrer Ladenwelt, in ihrer Kaufmannswelt. Da gehts ziemlich kümmerlich zu, da sagt man »Petsch!« zu ihnen oder: »Harschfeld, holen Sie mir mal den Jahrgang XV herüber!« oder: »Warum sind Sie heute morgen wieder zu spät gekommen … ?«, und die Aussichten, daß sich das in den nächsten fünfundzwanzig Jahren ändert, sind gering. Aber die andere Welt …

Die andere Welt heißt: der Verein.

Der Verein ist die Traumwelt der Erwachsenen, Märchenland ist er, Wunscherfüllung und Paradies. Im Verein, ja, da ist der Mann noch was wert … Da erschließt sich eine ganz neue Welt.

Man sollte es nicht für möglich halten, dass dieser bescheidene kleine Mann, der da morgens immer so brav von der Ringbahn ins Bureau trottet, »in Schachkreisen« eine angesehene Persönlichkeit ist; dass jener biedere Prokurist mit den zwei Gesichtern – eins für den Chef und eines für die ihm unterstellten Nichtprokuristen – sich abends einen schwarzen Rock anzieht und so etwas wie eine Fünfgroschenmagie verzapft, bei brennenden Leuchtern und klopfenden Hämmern … man sollte es kaum glauben.

Und der Sport –! Der beste Läufer Brandenburgs an der Havel, von den Schönen des Landes bejubelt, steckt morgens um neun seine gleißende Krone unter das Lüsterjackett und schreibt Zahlen in ein Buch, das ihm nicht gehört, das ihn eigentlich nichts angeht, an das er nur gefesselt ist: durch das Gehalt. Der berühmteste Tormann der Oberliga: wo steckt er am Tage? Der Rekordmann der Brustschwimmer? Der erste Vorsitzende der Wassersportler? Harun-al-Raschids sind es, versteckte, verkleidete, verzauberte Prinzen.

Und das Vereinsleben – man unterschätze es nicht! Erinnert man sich der ungeheuren Aufregung, die es setzte, als sich der Zweigverein Gelsenkirchen dem Beschluß der Zentrale wegen der abzuführenden Mitgliederbeiträge nicht fügen wollte? Hei, das gab heiße Kämpfe! – Unser Schriftführer, der dicke Gläser, stand auf – ich seh es noch, als wäre es gestern gewesen – und donnerte fünfmal gegen den Vorstandssitz: »Zur Geschäftsordnung! Zur Geschäftsordnung!« Das waren Stunden! Aber am nächsten Morgen saßen wir schon alle wieder im Bureau und kritzelten, emsig gebeugt, in die großen Bücher, die uns nicht gehörten und die uns eigentlich gar nichts angingen.

Ehre dem Vereinsleben, denn es ist der Trost einer leidenden Menschheit –!

Nur ist zu fragen: wie es denn die Leute machen, dass sie so mühelos von einer Welt in die andere springen können?

»Paul T. ist in Briefmarkenkreisen ein angesehener Philatelist.« Gut. »Paul T. leitet die Registratur des Geschäfts.« Auch gut – obgleich es da gar nichts zu leiten gibt, weil Paul und die Briefordner ganz allein im Zimmer sind, aber man sagt das so. Wie nun aber macht es Paul, um nicht von einer Welt in die andere zu kippen – genau die Miene aufzusetzen, die nötig ist: die etwas bescheiden-dämlich-aufgeweckte in der Registratur und die selbstbewußt-sachverständige in Briefmarkenkreisen? Wirft er es nie durcheinander?

Er wirft es nicht durcheinander. Geduckt ordnet er die Briefe – gerecht spricht er sein Anathema über falsche Thurn und Taxis und Mauritius. Mehr, er flüchtet von der einen Welt in die andere. Kommt der Alte frühmorgens um elf mit hochrotem Kopf in die Registratur gepoltert und brüllt: »Warum legen Sie die Korrespondenz mit Vohwinkel unter F – machen Sie doch Ihre Augen auf!« – dann klebt er noch emsiger Papier an Papier und beugt den Kopf. Aber in ihm jubiliert eine innere göttliche Stimme: »Du Ochse – du kannst ja nicht einmal eine Ganzsache von einer einfachen Marke unterscheiden! Ignorant! Tropf! Laie! Komm mal in meinen Verein – da wärst du sooo klein … « – »Sagten Sie was?« ruft der Chef herüber. »Ich? Nein, Herr Edler! Ich dachte nur … «

So hat der moderne Mensch, Preis ihm!, das fahrbare Paradies erfunden – eines, das man immer bei sich führen kann. Es verleiht innern Halt und ein bißchen äußern auch. Es stärkt. Es ermutigt. Es reckt grade. Es ist ein inneres Gegengewicht gegen die Tücken des Alltags.

Dahinseufzend unter der Last trüber Alltagsarbeit, aus der man nur die kümmerliche Freude herausschlagen kann, zu fühlen, dass es Leute gibt, die nichts von ihr verstehen, haben sie alle einen Trost. Sie gehören » … kreisen« an. Sie sind in diesen » … kreisen« eine bekannte Persönlichkeit, die der Fachmann schätzt. Im Diesseits haben sie ein Jenseits gefunden. Der Referendar ist gar kein Referendar, sondern ein bekannter Theosoph; der Bureauvorsteher tut nur so, glaubt ihm nicht!- er hält den Rekord im Stabspringen; der Briefträger ist ein Radiofachmann; der Hotelportier ist Langstreckenschwimmer; der Rechtsanwaltsschreiber Motorradsportler. So ist jeder Mensch zweimal vorhanden.

Nur die Berliner Theaterdirektoren werden in dieser Saison lediglich einmal vorhanden sein, Stück für Stück. Denn sie können sich den Luxus einer zweiten Welt nicht erlauben. Dieser Beruf füllt einen Menschen aus.

Peter Panter
Vossische Zeitung, 05.09.1926, Nr. 213, S. 2.