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Berliner Verkehr

Die berliner Presse ist dabei, dem Berliner eine neue fixe Idee einzutrommeln: den Verkehr. Die Polizei unterstützt sie darin aufs trefflichste. Es ist gradezu lächerlich, was zur Zeit in dieser Stadt aufgestellt wird, um den Verkehr zu organisieren, statistisch zu erfassen, zu schildern, zu regeln, abzuleiten, zuzuleiten … Ist er denn so groß? Nein.

Kommst du nach Berlin, so fragen dich viele Leute mit fast flehendem Gesichtsausdruck: »Nicht wahr, der berliner Verkehr ist doch kolossal?« Nun, ich habe gefunden, dass er an seinen Brennpunkten etwa dem Verkehr einer mittlern pariser Straße abends um 6 Uhr entspricht – und das ist ein rechtes Mittelmaß, aber nicht mehr. Und gegenüber diesem kindlichen Getobe muß ich sagen, dass ich eine Geisteshaltung nicht begreife, der die Quantität eines Verkehrs imponiert. An der Place d'Opéra stehen zu manchen Tagesstunden sechs Reihen Automobile nebeneinander – nun, und? Hebt das Paris? Wird Paris dadurch wertvoller? Das beweist doch nichts weiter, als dass man beim Bau der pariser Innenstadt an einen solchen Verkehr noch nicht gedacht hat; beweist, dass die Konzentration von Bureauviertel und aufeinandergehäuften Hausbewohnern etwas Ungesundes ist, eine wahrscheinlich nie zu lösende Schwierigkeit, die wohl einmal zur Dezentralisation großer Städte führen kann – alles mögliche beweist diese sechsfache Reihe der Automobile, nur nichts Angenehmes. Man muß alte Pariser von den Boulevards erzählen hören: wie sie einmal, bei jedem Ausgang, schnell einen kleinen Umgang über die Boulevards gemacht haben, weil es so nett war, da spazierenzugehen – und heute ist das eine bunte Hölle, ein wüster Spektakel, der Pariser ist froh, wenn er wieder herunter ist … Imponieren? Davon steht nichts drin.

Nun hat Berlin diesen Verkehr nicht, bildet sich aber ein, ihn zu haben, und die Polizei regelt diesen imaginären Verkehr so, wie nie ein Mensch in Paris geregelt hat noch regeln würde. Es gibt keinen verständigen berliner Autofahrer, der mir nicht gesagt hätte, wie diese winkenden und turnenden Schutzleute nur eine Belästigung des Verkehrs darstellten, wie alles viel besser und glatter ginge, wenn sie nicht da wären – und ich kann das nur bestätigen. Die Pausen, in denen man etwa auf dem Kurfürstendamm die »Wagenburgen« passieren läßt, sind so lang wie an den Champs-Elysées – nur lohnt es sich da, nur ist es da nötig, solche Pausen im Verkehr eintreten zu lassen, während in Berlin die Pause erst dazu dient, eine Ansammlung hervorzurufen, die sonst nicht vorhanden wäre.

Was an diesem beängstigenden Schwachsinn von Überorganisation und Zeitungsgeheul um das pure Nichts so bezeichnend ist, das ist eben jene amtliche Gschaftlhuberei, die um ihrer selbst willen betrieben wird. Die Art, wie sich staatliche Angestellte, die für ihre selbstverständliche Tätigkeit bezahlt werden, neuerdings in der Presse mausig machen, diese primadonnenhaften Auftritte »der Spitzen der Behörden« – man muß das gesehen haben! –, diese lächerliche Überschätzung ganz einfacher Funktionen wirkt um so grotesker, als die Wirklichkeit diesem Brimborium überhaupt nicht entspricht. Ich habe mich oft gefragt, wo wohl Paris hingeriete, wenn es solch ein Hallo um Selbstverständlichkeiten machte – und es hätte immerhin Anlaß dazu. Aber kein Pariser kümmert sich um die so unendlich wichtige Frage, ob die Schienen der Elektrischen aus der rue Réaumur entfernt werden oder nicht … Das steht kaum in der Zeitung. Der Rest geht mehr oder weniger glatt von selbst, die Polizei macht Fehler oder trifft vernünftige Anordnungen, und im übrigen haben die Leute andre Sorgen.

Die Aufblähung der deutschen Ämter aber, mit gütiger Unterstützung der Presse, nimmt nachgerade Formen an, die zu der Überlegung veranlassen, ob diese harmlosen Ämter nicht ein bißchen das Theater zur Metternich-Zeit vertreten: Ablenkung vom Wesentlichen. Vater Staat hält dem Kind Untertan eine bunte Puppe vor, etwa einen Polizisten mit weißen Signalärmeln, damit es stille sitzt, während ihm einer in den Taschen umherwirtschaftet …

»Die grüne Welle in der Friedrich-Straße« – das ist eine Überschrift auf der ersten Zeitungsseite. Von der roten Welle, die sich durch die Gefängnisse ergießt; von den beispiellosen Schweinereien in ostpreußischen Gefängnissen; von der schmachvollen Behandlung, die zu Unrecht festgesetzten Kommunisten zuteil wird: davon ist weniger die Rede.

Es ist nicht nur die Überbevölkerung, der Drang, sich um Gottes willen durch eine überflüssige Betätigung eine Existenzberechtigung zu verschaffen, die dieser völlig gleichgültigen Tätigkeit der Verkehrspolizei zu einer Inflation verhilft. Es ist so schön harmlos …

Und der Rummel kommt auch einem tiefen Drang des Neudeutschen entgegen, sich so zu fühlen, wie er sich die Amerikaner vorstellt. Er kann leicht darauf verzichten, ein Kerl zu sein – aber in einer Stadt zu wohnen, die eine »Ssitti« hat und einen »Brodweh«, det hebt Ihnen.

Meinen Sie, unser Verkehr sei kein »Problem«? Ach, wir sind ja so problematisch! Neulich kündigte einer einem Freunde seinen Besuch in Paris an. »Ich komme, um die romanische Lösung des Großstadtproblems zu studieren … « Billiger tat ers nicht, und er wird sicherlich nicht einmal merken, dass es hier kein Problem und keine Lösung gibt, sondern nur: Paris.

Wichtiger als der künstlich aufgepustete Beamtenkram scheint mir eine ständige Kontrolle der Verwaltung. Es ist ja sehr hübsch, wenn der »Strafvollzugspräsident« eine Rede bei der Einweihung der Hedwig-Wangel-Stiftung hält – wesentlicher wäre, dass sich der Mann einmal darum kümmerte, was in seinem Ressort vorgeht, und ob da nicht die einfachsten Gebote der Menschlichkeit verletzt werden.

Und wenn sich diese schmeichelnden Lokalredakteure und die Beamten und die Chronikeure von noch dreißig Amerikanerinnen bescheinigen lassen, wie großstädtisch sie sind – abgesehen von ihrer Naivität, die den Wert solcher Erklärungen nicht kennt, ist für die Tatsache, wie wenig Großstädter sie in Wahrheit sind, das eine charakteristisch: dass sie sich so sehr anstrengen, es zu sein. Hat man schon einmal einen Berliner davon Wesens machen sehen, dass seine Hautfarbe weiß ist? Das Selbstverständliche brüllt man nicht aus.

Die Verkehrsseuche aber greift aufs Land über, und was Berlin recht ist, ist Bückeburg billig. Kein Auto weit und breit – aber zwei Verkehrspolizisten; ein Auto am Horizont: und ein wildes Gewinke, Geblase, Gepfeife hebt an. Dabei fahren die deutschen Autochauffeure schlechter als etwa die pariser; dabei können sich ungeschickte Fußgänger und brutale Autoführer nicht einigen; dabei klappts doch nicht.

Weil es eben nicht auf die Organisation ankommt, sondern auf ganz etwas andres, und weil das wahre Leben da beginnt, wo der Deutsche nicht hindenkt.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 09.11.1926, Nr. 45, S. 739.