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Vier Sommerplätze

Von der Normandie habe ich schon erzählt. Das ist ein heiteres, grünes Land, mit kleinen Badesträndchen und großen mondänen Plätzen, um die bequeme Wege herumführen. Bevölkert wird dasselbe von Eingeborenen und einigen Fremden, die französisch sprechen; die Landessprache ist englisch. Kleiner Mittelstand, der über die Schienenstränge schlägt, ist bekanntlich das schauerlichste, was es gibt – nicht zu Unrecht sind die Franzosen manchen Reise-Amerikanern und Valuta-Engländern gegenüber gereizt. Die affenartige Wiederholung einiger Inflationssymptome zeigt aufs neue, was es mit dem Nationalstolz auf sich hat: Romantik von gestern, vorgehängt vors Geschäft von heute. Wenn zum Beispiel kleine Ausschreitungen gegen Fremde vorkommen, dann sagt auch nicht ein Blatt: Dies ist blödsinnig – sondern jedes sagt: Es schadet unsern Handelsbeziehungen. Das haben wir alles schon einmal gehört. Im übrigen weiß vom normannischen Bauern keiner was, der nicht bei seinen Erbteilungen, Hypothekenaufnahmen und Grundstücksauflassungen dabei gewesen ist. Die Originalität von ›Sitten und Gebräuchen‹ liegt hauptsächlich da – der Stamm der Spittelmarktindianer macht keine Ausnahme.

Der Übergang von der Normandie nach Garmisch war etwas schroff.

Wir sind vor Jahren die ersten gewesen, die den Ruf »Reisende – meidet Bayern!« ausgestoßen haben, damals, als es sehr, sehr nötig gewesen ist. Etwas geholfen hat er. Und auch heute noch lockte es mich nicht in das Land, von dem der ursaupreußische Fridericus in seiner echt kernig-deutschen Sprechweise gesagt hat: »C'est un paradis, habité par des animaux« – aber ich war gewiß nicht zu meinem Vergnügen in Garmisch. Das muß auch schwer sein.

Auf den Wegen stapfen unwirsche Norddeutsche, Sachsen, als Diroler verkleidet, und solange sie nicht den Mund auftun, ist die Täuschung vollkommen: dann hält man sie für Berliner. Die Männer sehen alle viereckig aus, auf dem Hals tragen sie eine kleine Tonne, daran ist vorn das Gesicht befestigt. Morgens setzen sie es auf, und was für eines –! Die Frauen schlapfen daher. Alles baumelt an ihnen, auch die Seele. Ich war seit zwei Jahren zum ersten Male wieder in Deutschland; in der Heimat kann ich nicht sagen, weil es sich ja um Bayern handelt – wir würden uns das beide verbitten.

Das erste, was auffällt, ist: Ganz Deutschland besteht aus Augen. Große Telleraugen, blanke Glasscheibchen, trübe Wasserflecke – sie starren dich an. Alle sehen alle an, ganz genau. Sie mustern, machen Inventur, prüfen, überprüfen, riechen mit den Augen. Auch machen sie eine unendliche Wirtschaft aus allem, sich und den andern das Leben schwer und das Reisen zu einer Dienstpflicht, der sie mit zusammengepreßten Lippen und angestrengtem Gesichtsausdruck obliegen; noch nie habe ich auf einer französischen Bahn einen solchen Trubel um nichts erlebt. Wo einer sitzt, ob das Fenster auf oder zu ist, und wie der Handkoffer liegt, und was es da alles gibt … es sind typische deutsche ›Probleme‹: anderswo gibt es sie gar nicht, oder sie sind keine. Muß das Dasein hier Kräfte kosten –!

Kostet es auch. Die Luft ist geladen mit Spannung – man empfindet das nie so stark, wie wenn man von draußen kommt, wo das Leben keineswegs paradiesischer, aber geölter dahinläuft, auch da, wo es stockt. Ein französisches Verkehrshindernis erfordert von den Beteiligten weniger Nervenkraft als der deutsche glatt abgewickelte Verkehr.

Alle sind gestrafft, ihrer Zuständigkeitsrechte sich durchaus bewußt, scharf abgegrenzt gegen den lieben Fernsten. Einmal bin ich durch eine Gruppe Sprechender auf einem Korridor mit einem leise gemurmelten Gebet hindurchgegangen – ich durchschnitt eine pappendeckelfeste Atmosphäre von Übelwollen und Offensivgeist. Stramm, stramm.

Dabei ist äußerlich alles praktischer, aber auch beinahe alles hübscher als in Frankreich: Konditoreien, Hotels, Straßen, Häuschen, Zigarrendüten. Und dennoch –

Leider haben sie auch eine Bar, wo Prokuristen und Zahnärzte so auszusehen sich bemühen, wie es in ihren Dienstvorschriften – den illustrierten Zeitungen – vorgeschrieben steht. Inferno. Mit heißen, roten Köpfen drehten sich prustende Klumpen in einem bonbongelben Licht zu den Klängen eines synkopierten Parademarschs. Einer trank eine Flasche Sekt und nahm damit zu sich: klassenbewußte Lebensbejahung, wohlverdientes Ferienglück, Distanzierung gegen die da unten. Ein guter Popo ist ein sanftes Ruhekissen.

Auch schwebten wir die Zugseilbahn hinauf, ich paßte auf, dass Fritzi Massary nicht herausfiel, und dass mir nicht übel wurde. Die befohlene Aufgabe wurde voll erfüllt.

Die Zugspitzbahn ist ein Triumph menschlichen Erfindergeistes, ein Wunderstück deutscher Technik, die Überwindung der Elementargewalten durch die Kraft der Beharrlichkeit und etwas völlig Blödsinniges. Wenn ich Zugspitze wäre: man müßte sich ja zu Tode schämen. Sieht man von den Ski-Leuten ab, die sich ›mit die Brettln‹ im Winter da heraufziehen lassen können, um herrlich wieder herunter, zu Tal, zu fahren – der Berg ist gar kein Berg mehr. Entzaubert, von seinem Thron jäh heruntergeholt, eine Plattitüde von dreitausend Metern. Oben stehen die Leute und wissen nicht genau, was sie da sollen. Manche lassen sich anseilen, um bis zum noch unasphaltierten Gipfel zu steigen: grinsend zog an uns ein bayerischer Führer vorbei, seine Opfer, das Seil über den Sommerüberziehern, zog er hinter sich her. Ihre Augen sagten: Ihr Lümmels in der Etappe … ! Ein Grammophon mit Schinkensemmeln zeigte an, bis zu welchen Gebirgshöhen heute die menschliche Zivilisation vordringen kann. Polgar, der mit heraufgeschwebt war, suchte eine Ansichtskarte, die er an Hans Müller schicken könnte. Dann schwebten wir wieder herunter.

Von dem nun folgenden Fex-Platta oberhalb Sils-Marias kann ich diesbezügliche Aussagen nicht machen. Mein dort ansässiger Brotherr, S. J., schloß mich bei meiner Ankunft gerührt in seine bärtigen Arme, wies mir kurz das Nietzsche-Haus, drohte mit Ludwig Fulda, der darin sein Wesen trieb, und bedeutete mir streng: »Und dann ist hier noch viel Natur – setz dich hin und arbeite.« Darauf sperrte er mich in einen hängenden Stall, den er als Balkon ausgab, legte mir einen Band Reichsgerichtsunterscheidungen unter den wackelnden Stuhl, weiße Rückseiten alter Korrekturfahnen auf den Tisch und schloß ab. Zu den Mahlzeiten wurde ich ein Stündchen herausgelassen. Das Fextal soll eine sehr schöne Landschaftlichkeit besitzen.

Dann fuhr ich nach Hause.

Unterwegs stießen rauhe Schweizerkehlen noch manchmal einen alten schwyzerischen Schlachtruf: »Passug!« aus, was ich für den Anfang eines Landsknechtsliedes hielt, es ist aber ein Mineralwasser, ich kaufte auf einer Station ein Lokalwitzblatt und erwachte in Tränen gebadet, in Basel umgurgelten mich zum letzten Mal die Kehllaute der Saalmädchen, und am frühen Morgen, als auf dem Gare du Nord jemand neben mir sagte: »Na nu mah rin ins Vajniejen!« – da hatte Paris mich wieder.

Jetzt sitze ich in der Bretagne und lerne Englisch, um durchzukommen. Zum Abschied in Bayern hatte ich Pallenberg gebeten, mir etwas Französisch aus seiner reich assortierten Sprechkiste zu holen; er tat es sofort und erklärte mit aufgeweichten Konsonanten, er sei ein armes Mädchen, das man im Kriege in einer belgischen Kupplerei beschäftigt – man braucht hier übrigens in der Bretagne kein Französisch. Doch, man brauchts, wenn man die kleinen windstillen Ecken aufsucht.

Nun senken sich langsam die Eindrücke der Reise nieder, wie weitflüglige Vögel nach einem langen Flug fallen sie sacht aus der Luft: In Quimper lag im Stadtfluß ein toter Hund, starr wie ein zackiger Baumstamm; der Speisewagen von Chur nach Basel hatte mattfarbene Ornamente, wie vom vorjährigen Picasso; bayerische Beamte sind manchmal höflich; kein hübsches Mädchen diesmal neidisch vorbeiziehn gesehn; es gibt einen gewissen norddeutschen Frauentypus, der nur mit Prügel zu regalieren ist, diese Frauenzimmer fühlen sich an wie gegen den Strich gebürstete Zylinderhüte; man möchte sein ganzes Leben lang allein sein; in der Schaukel der Zugspitzbahn stand ein einarmiger famoser österreichischer Offizier; man möchte nicht mehr allein sein.

Aus der Luft kommt noch ein Vogel matt herabgefallen.

Man möchte doch allein sein.

Peter Panter
Die Weltbühne, 24.08.1926, Nr. 34, S. 305.