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Tilla Durieux

Zwei Augen phosphoreszieren in der Dämmerung. Eine müde Frauenstimme sagt: »Und nun sitze ich hier seit fünf Jahren in diesem Nest und sehe keinen Menschen, sondern nur Schatten. Ah, Sie wissen nicht, was das heißt.« Und er, feurig, heiß, erregt: »Doch, doch! Ich begreife es! Ich bemitleide Sie unendlich! Was müssen Sie gelitten haben!« Pause. Es ist ganz finster geworden, der Abendwind klappt ein Fenster zu. »Katja!« Eine Hand zuckt, ein Stuhl fällt, er bricht vor ihr zusammen. Sie lächelt durch die Dunkelheit. Er ist eingeschnappt.

Sie war bei der Modistin. Und kam zurück mit wundervollen Toiletten, schritt auf die Bühne und repräsentierte als Tilla Durieux eine ganze Schicht unverstandener Frauen (was viel ist) und sich selbst (was nicht allzuviel besagt); auch stellte sie so allerhand dar, was ihr Dichter und Souffleur vorschrieben.

»Ein durch Klugheit, Gleichmut, Selbstbewußtsein erhöhtes Menschentum, ein wesentlicher und wertvoller Teil der modernen Kultur«, sagt der Prospekt. Nun, wollen sehen.

Judith; die Dame in Heinrich Manns ›Großer Liebe‹; Hedda Gabler – aber wie kann ich Rollen aufzählen, da sie nie variiert, sondern brüsk und unbedenklich stets sich an die Rampe geschoben und nur, jenachdem, an dieser oder jener Stelle unterstrichen, betont, überdeutlich markiert hat? Denn verstehen, verstehen sollte jeder sie um jeden Preis. Sie spielte noch für die Droschkenkutscher mit, die vorn am Theater warteten. Eine Duse (des) dritten Rangs, eine dramatische Primadonna nicht ohne Gänsefüße: aber mit vielen Registern. ›Haß‹ war, zum Beispiel, wenn man bitterböse, unter halb gesenkten Lidern dem Partner nachsah und mit den Augendeckeln knirschte; als »lässige Müdigkeit« waren die Draperien aufzufassen, mit denen man leere Mauern bekleidete, und an die man Profil, Arme und Oberkörper weich nach hinten lehnte; ›Hingebung‹ war wieder eine ganz eigene Sache mit völlig geschlossenen Augen und krampfigen Umarmungen – nur Liebe, Liebe gab es hier nicht. Als Schauspielerin also kaum allzu ertragreich, will man hierher nicht eine gewisse Portion deplacierten Unnaturburschentums rechnen, womit ihre Gestalten die andern Personen der Stücke drangsalierten.

Ich schiebe die Schauspielerin bei Seite – sie interessiert mich nicht. Aber hinter ihr erblicke ich die unendliche Schar derer, die es ihr gleichtun und gleichtun wollen: kleine bürgerliche Katharinen die Zweiten, Salonschlangen, dämonische Dummchen, Kleopatras ohne einen Antonius, nach dem sie sich so sehnen; haben sie ihn aber, und haben sie den richtigen, dann gnade ihm Gott!

Wir haben diesen Typ, den die Durieux am reinsten darstellt, vielleicht aus dem Slawischen übernommen. Diese teuflischen Friseur-Circen können keinen Verehrer verrückt machen, ders nicht schon ist, und es ist immer wieder unglaublich, wie auch nur ein Mann glauben kann, sie hielten je, was sie versprachen.

»Wir werden uns unerhört lieben«, sagen sie. Aber das erinnert lebhaft an die Verheißungen niederer Damen, es dem Kavalier recht gemütlich zu machen und ihm den Kaffee ans Bett zu bringen. Nur ist das handgreiflich und vielleicht auch wahr, während hier ein übles Anreißertum sich eine Summe aufs Debet schreiben läßt, die nie mehr einzubringen ist. Wenn eine Dekadenz vorliegt, dann ists die des Mannes, der nicht sofort hinter das spiegelnde Schaufensterglas sieht, um zu konstatieren, dass da nichts ist. Es verlohnt nicht einmal die Knute, unter der diese Frauen allenfalls erträglich sind – es genügt ein Achselzucken, das sie augenblicklich versagen macht. Auch taube Nüsse wollen geknackt sein. Keiner hat das vielleicht so stark empfunden wie der viel zu wenig gekannte Krieglstein in seinem Reisebuch ›Zwischen Weiß und Gelb‹. Da traf er in der Mongolei mit einer solchen zusammen, und Madame Helene stand im Schlafzimmer vor ihrem Spiegel. »Sie kramte auf ihrem Toilettentisch, es schien mir, als suche sie ein Parfum … aber es lag etwas Herausforderndes in ihren Bewegungen – ihre vollen Hüften vibrierten wie in Erwartung einer Umarmung – ihre Schultern sanken in einem langen, weichen Seufzer herab … sie stand ganz nahe an ihrem, reich mit Spitzen verzierten Bett – es lag in der ganzen Situation eine nicht mißzuverstehende Aufforderung, jetzt den Mann zu zeigen, und wenige Sekunden war ich auch entschlossen, das Weib zu nehmen. Sie wartete, sie rührte sich nicht mehr – wir hielten beide den Atem an, und die Spannung begann, unerträglich zu werden – da traf mich aus dem Spiegel wiederum ihr harter, forschender Blick, wie ich nun schon zweimal beobachtet hatte – im Glase begegneten sich unsre Augen – so kurz, zeitlich kaum meßbar … ›Sehen Sie her! … Wenn Sie mich berührt hätten, wäre Ihnen eine Kugel in den Kopf geflogen – so rasch – Sie hätten gar keine Zeit gehabt, zur Besinnung zu kommen, und wären auch schon drüben gewesen … ‹ – ›Wozu diese Komödien, Helene … Sie hätten nicht geschossen – wir führen doch hier kein Schauspiel auf … ‹ – ›Aber ich hätte geschossen … Bestimmt hätte ich geschossen … !‹« Und später: »Sie hatte mich in den vierundzwanzig Stunden, die wir uns kannten, alle Stadien einer tiefen Leidenschaft durchkosten lassen – sie hatte mich gerührt, verstimmt, entflammt – abgekühlt, vertraulich und verächtlich behandelt – mir den ehrbarsten und gemeinsten Charakter in sich gezeigt – und als sie glaubte, das Objekt genügend präpariert zu haben, um das große Spiel zu spielen, – da hatte ihre Erfahrung versagt – denn ich war weder heroisch noch feige gewesen, sondern hatte sie als dumme Gans behandelt.«

Aber solche Kerle gibts kaum bei uns, wo dies Geflügel mehr Futter findet, als es vertilgen kann. Eine Gans! »Sie müßten ihre Augen sehen, und Sie würden das nicht sagen! Glasgrün und undurchdringlich, und ihre vibrierenden Nasenflügel! Das Weib macht mich toll!«

Was haben diese schon für Unheil angerichtet! (Muß ich erst sagen, dass auch Ungebrannte über das Feuer sprechen können?) Wie haben sie gehetzt, geschürt, gestört – wozu? Um zu herrschen. Sie haben die feinste Witterung für den Mann, den wirklichen Mann – und gehen ihm ängstlich aus dem Weg. Sie wollen herrschen, sie sind des reines, aber einäugige unter blinden Untertanen.

Nun sei ja Gott vor der korrekten Bravheit – aber sollte es denn dazwischen nichts geben? Hätten wir nur die Wahl zwischen blonden Pastorstöchtern und diesen falschen Interessanten? Nichts ist ihnen so verhaßt wie Klarheit – sie brauchen verschwimmende Nebelschwaden; nichts so zuwider wie Licht und Luft – sie brauchen Beleuchtung und Parfums, um überhaupt zu wirken. Diese Requisiten sind bei ihnen nicht Zugaben einer Persönlichkeit, sondern hauptsächliche, sogar einzige Mittel der Suggestion. Sie sind das andre Ende einer wahnsinnig gewordenen Frauenkette, die regieren will. Nur sind sie viel klüger als Lyzeumslehrerinnen, die den Mann dabei außer acht lassen. Sie herrschen durch den Mann und sind so gefährlicher.

Einmal aber hat die Durieux auf der Bühne eine Gestalt nicht verkleinert, nicht veräußerlicht, nicht umgemodelt, nicht sich angeähnelt, sondern wirklich verkörpert: das war die Hanna Elias in ›Gabriel Schillings Flucht‹. Hier hatte sie nichts zu tun, als einfach da zu sein und den Text zu sprechen – die Rechnung stimmte. Wie sie noch in der Fröhlichkeit gezwungen war; wie sie noch im Skandal ›Liebling‹ sagte; wie kein Gefühl ungebrochen, klar, eindeutig zum Ausdruck kam, sondern phonographisch herausgeschrien wurde; wie man immer die Empfindung hatte: sie kann auch ganz anders – nimm ihr das Prisma der ›interessanten Frau‹, und du hast eine belanglose Person, der ihre Zweckpolitik so über den Kopf gewachsen ist, dass sie selbst nicht mehr zwischen Wahrheit und Lüge unterscheidet! Man hätte sie bitten mögen, einmal, nur ein einziges Mal der Kuriosität halber wahr zu sein – sie hätts nicht mehr gekonnt. Sie hat es längst vergessen: sie ist Monomanin, deren ganzes Fühlen sich darauf konzentriert hat, zu herrschen, zu herrschen in jedem Fall. Auf der Orgel dieses Ehrgeizes spielt sie alle Register: sie kann jammern, bitten, flehen, höhnen und so unendlich gemein sein. Und wenn alles umsonst zu sein scheint, müde sagen: »Gut, ich gehe. Wohin du willst, gehe ich.« (Bricht an der Tür zusammen.) Und dann, halblaut: »Nicht wahr, du kommst wieder zu mir?« Und dann beugt er sich über sie. Es ist stickig in ihrer Nähe, heiß und drückend. Man sehnt sich nach frischem Wind, nach einem lustigen, vernünftigen Mädel, das nicht mehr Frau ist, als eben dazu gehört, und das einem die Hand drückt wie ein guter Freund. Da unten aber ists fürchterlich: sie jonglieren mit Gefühlen, die jederzeit abschnappen können, und ihr Haus hat tausend Zimmer, eins an dem andern, und in dem letzten ist nichts.

Oder doch sehr wenig. In diesem Stadium mag das Wörtchen ›Geschlechtsakt‹ abkühlen. Es wirkt so, wie wenn man die Hostie ein Stückchen Teig nennt: Sakrileg. Aber ein notwendiges; denn es erscheint angebracht, diesem Typ (von Jüdinnen und Polinnen) das zu nehmen, was ihn mächtig macht: den Glauben der andern. Was sind diese ohne den Mann? Langweilige und faule Haremstiere, die keine Interessen haben, die in der Natur, in den Büchern, in der Kunst, bei andern Menschen nichts finden. Daher ist das, was sie zum Schluß zu geben haben, das wenigste. Und sie unterbrechen ihr Geben fortwährend – sie wissen warum. Auf eine kleine Flasche gehört ein Tropfenzähler. Auch wäre der grade Weg so verdammt kurz; nun, so gehen sie den gekrümmten, und ihre Dummen kriechen ihn nach, statt einen dicken Strich durch die verpfuschte Zeichnung zu ziehen. Und was sind sie mit dem Mann? Herrscherinnen über gebeugte Rücken, denen die Köpfe verloren gegangen sind; sie schwingen das Zepter und, wenns sein muß, über ganz Verrottete die Peitsche. Aber man benötigt nicht einmal diesen körperlichen Ausnahmefall zur Illustration. Sie werden nicht genommen: sie geben sich; man packt sie nicht: sie gewähren – und am Schiff mit dem Zickzackkurs halten sie das Steuer. Was ein rechter Kerl ist, wird sich nicht bei dieser Station aufhalten, wo vielen schon aus einer Viertelstunde Aufenthalt ein verpfuschtes Leben geworden ist. Seht endlich ein, dass sie nichts zu verstecken haben, seht ein, dass sie sich selbst hinter halbgeschlossenen Augenlidern, dicken Portieren, seelenvollen Worten verbergen müssen. Stünden sie in freier Luft – an ihnen reizte nichts. Arme, frierende Seelchen. Aber so: Venus im Pelz, unsichtbare Königinnen unsichtbarer Reiche, belastet mit einer immensen Staatsschuld, aufgenommen bei jedem Tölpel von Mann.

Ein Kriegsruf? Eine Warnung? Nur ein Stück Naturgeschichte der Oberart, der Bühnen-Inkarnation, des sehnsuchtsvoll angestarrten und hitzig kopierten Musterexemplars jener femme incomprise up to date.

Kurt Tucholsky
Die Schaubühne, 12.02.1914, Nr. 7, S. 184.