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Ein kleiner Druckfehler

Der Pazifisten-Kongreß zu Bierville, dessen weitherziger Veranstalter Marc Sangnier alle, alle eingeladen hatte, die sich im Frieden zum Frieden bekennen wollten, hat in der französischen Presse erfreulicherweise einen ziemlichen Spektakel hervorgerufen. Leider nur in der Presse – ich glaube nicht, dass sich das große Publikum sehr mit diesem Gericht (Reisauflauf mit Gitarrenbegleitung, kalt zu servieren) beschäftigt haben wird. Aber es ist recht bezeichnend, dass man den jungen Leuten alles hingehen ließ: Wandervogellieder mit Apostroph, wann wir schreiten Seit' an Seit', Fackelzüge und Freilichtinszenierungen, Zeltlager und liebe Reden – das war zur Not noch gestattet. Bedenklich schien den Franzosen schon, dass Herr Nitti mitwirkte, jener italienische Minister, den sie stark im Verdacht der Deutschfreundlichkeit haben, und der es heute genau weiß, wie man es damals hätte machen müssen … Aber als es wirklich – ein einziges Mal – ernst wurde, da merkten es doch gleich alle, und nun ging es los.

Ein deutscher Pazifist, Ehlen, hatte den Antrag eingebracht: »Der Kongreß sieht im obligatorischen Heeresdienst eine unbillige Einmischung in die Souveränität des persönlichen Gewissens« (ich zitiere nach dem französischen Text). Dieser doch sehr milde Satz wurde in der Kommission von den Pazifisten Ferdinand Buisson und Marc Sangnier angegriffen, in derselben Kommission angenommen und im Plenum verworfen. Der ›Temps‹ runzelte die grauen Brauen. Was? Die Zwangspflicht, sich töten zu lassen und andre zu töten, verstoße gegen die Gewissensfreiheit? Und noch dazu ein Deutscher, der das sagte! »Enfin, il y avait quelque audace et même quelque indélicatesse … « Wie delikat die Brüder sind, wenn es sich um die Internationale der Abdecker handelt! Selbstverständlich hat ein deutscher Pazifist trotz der enormen Belastung durch seine Kriegsgeschichte das Recht, vor internationalen Pazifisten dergleichen zu vertreten, und Herr Ehlen verdient alle Anerkennung für seinen Mut und seine Initiative.

Zu lesen stand im ›Temps‹ dann noch, dass es doch ein unmöglicher Zustand sei, jedem Esel von Staatsbürger die Prüfung zu überlassen, ob denn die vorliegende ›nationale‹ Sache auch wert sei, sich totschießen zu lassen – das könne er nicht beurteilen. Und in Zeiten der Not vernünftige Prüfung? Wo kämen wir da hin! »In einem Augenblick, wo die Solidarität von Menschen derselben Rasse, derselben Traditionen, desselben Blutes unumgänglich notwendig ist … !« Kurz: die Behauptung in die Voraussetzung gestellt, denn es handelt sich ja grade darum, zu beweisen, dass diese Solidarität notwendig ist und nun gar noch bis in den Tod zu gehen hat.

Der Kongreß, der mit diesem nicht einmal angenommenen Beschluß kaum mehr getan hat als das harmlose internationale Manifest, das da den Völkerbund auffordert, die Abschaffung der Heeresdienstpflicht vorzuschlagen, hat anläßlich dieser Wendung eine böse Presse gehabt. Bis dahin war er enthusiastisch überschätzt worden – maßlos angeblafft oder orgiastisch gelobt –, und nur Fouchardière hatte im ›OEuvre‹ mit bezaubernd leichter Hand auf diese eigenartige Art von Pazifismus hingewiesen, wie sie auch Estournelles de Constant repräsentiert habe, und wie sie heute der katholisch gefärbte Marc Sangnier, dessen Vorname die boshaften Nationalisten auf französischer Seite mit einem ›k‹ schreiben, in Reinkultur vertritt. »Denn«, sagte Fouchardière, »wenn es selbst für Marc Sangnier schwer ist, eine Kanone zum Schweigen zu bringen, so ist es für die Kanone ebenso unmöglich, Marc Sangnier zum Schweigen zu bringen.«

Über die eigentümliche Mitwirkung von Mitgliedern eines Kabinetts, das grade eine finstere Spionin – heute, nach acht Jahren – für ihr gradezu ekelerregendes Wirken öffentlich belobt hatte, über die Mitwirkung der Kirche zu schweigen. Wenn sich Freidenker und Äbte die Hand reichen, kann man mit Bestimmtheit darauf rechnen, dass einer der Dumme dabei sein wird – und es ist immer derselbe. Eine Kirche, die sich über vier Jahre lang an der Schlächterei durch Einsegnung der Abdecker und der Schlächtermesser beteiligt hat, sollte sehr vorsichtig auftreten, wenn von Pazifismus die Rede ist. Katechismus der Diözese Paris, vom 12. Juli 1914: »Ist es manchmal erlaubt, seinen Nächsten zu töten?« – »Ja, es ist manchmal erlaubt, seinen Nächsten zu töten: 1. um einen Verbrecher zu töten, der gerichtlich dazu verurteilt ist; 2. um sein Vaterland gegen den Feind zu schützen … « So weit die Praxis einer Religion, deren Papst ja einmal in einer Audienz ausgesprochen hat, dass die »Apostel zu ihrer Zeit gewiß sehr nützlich gewesen sind; heute aber – wenn sie heute wiederkehrten, würden wir ihnen sagen: Ihr müßt zunächst einmal unter die kirchliche Disziplin«. Ein Unternehmen, das sich vor einem wirklich zu schämen hat: vor seinem Begründer.

Am tollsten aber heulte die ›Action Française‹. Das Gekläff Léon Daudets, dem in letzter Zeit etwas in die Kehle gekommen sein muß, weil er sich wohl heiser geschrien hat, übertönte das ganze Blatt. Der Mann, der vor dem Kriege berühmt gewordene Prophezeiungen über das, was kommen werde, ausgestoßen hat, sieht auch heute noch in Deutschland die große Gefahr für Frankreich, Nur: wie er das sieht, wie er das schildert, das zeugt zwar von einem vielleicht vorhandenen Ungewissen Instinkt, aber von seltener Ahnungslosigkeit, was Zusammenhänge, Milieu, Gründe und Ursachen betrifft. Was er davon schildert, ist meist nachweislich falsch; von den wirklichen Gefahrenzentren ahnt er kaum etwas. Das müßte mal ein Deutscher in die Hand nehmen.

Daudet sieht in diesen Wandervogelscharen, in diesen deutschen Pazifisten, in allen pazifistischen Demokraten Heuchler, Lumpen, Betrüger, Intriganten, ja Leute, die ihrer Überzeugung nur Ausdruck geben, um Frankreich hinters Licht zu führen. Das ist die Phantasie eines Harry Piel-Films.

Was Daudet nicht weiß, ist, dass diese Menschen in ihrer Mehrzahl absolut ehrlich, gläubig, anständig sind, dass sie wirklich glauben, das deutsche Bürgertum von heute sei gegen den Schwertglauben immun, und dass sie ihre eignen Volksgenossen nicht kennen. Die etwas ungeschickte Bierviller Rede Ludwig Bergsträssers, der sofort den Pazifismus bei der Besetzung des Rheinlandes anpackte, mag zu diesem Eindruck beigetragen haben. Er ist falsch.

Etwas andres ist zu sagen:

Diese Leute sind völlig einflußlos.

Sie sprechen für niemand; sie repräsentieren nichts, wobei nicht an eine vereinsmäßige Delegierung gedacht ist, sondern an eine typisierte Darstellung von Gesellschaftsklassen; es sind Außenseiter.

Denn da, wo es auf Entscheidungen ankommt, sitzen nicht sie, sondern ihre Gegner. Und wenn sie einmal zur Entscheidung zugelassen werden, dann fallen sie um.

In einem lichten Augenblick hat Daudet an die schmählichen Sozialistenkongresse vor den Kriegen 1870 und 1914 erinnert; die letzte derartige Zusammenkunft fand in Basel statt, Jaurès und Hermann Müller und viele andre versicherten sich damals – ein paar Tage vor Beginn der großen Zeit – ihrer unverbrüchlichen internationalen Solidarität. Dann spielten die Bezirkskommandos höhere Gewalt, und blutenden Herzens zogen die völkerumspannenden Sozialdemokraten in den Krieg, Marx im Herzen und die realpolitische Gasgranate in der Hand.

Daran erinnert Léon Daudet, finstere demokratische Verschwörer witternd, wo brave, gehorsamtüchtige Bürger sind, Konspiratoren bei Fackellicht sehend, wo charakterlose und feige Verdiener ihre Reichswehr und ihr Auswärtiges Amt bis zu Katastrophen geruhig weitermachen lassen. Und da heißt es:

»Genau wie die Boches von Bierville schwor Hermann Müller mit der Hand auf dem Herzen, dass die deutschen Sozialdemokraten bei Kriegsgefahr die Kredite verweigern würden. Unter dem Beifall von Jaurès und seinen Freunden erklärte er wörtlich: ›Je considère comme exclue l'hypothèse d'un vote des crédits de guerre … ‹« Und um nun zu zeigen, wie authentisch diese klassische Äußerung ist, gibt Daudet sie auf Deutsch hinterher, und dabei geschieht nun ein kleines Malheur, Vater Freud, dein Name sei gepriesen, und die Übersetzung sieht so aus:

»Daß man für die Kriegskredite stimmt, halte ich für ausgesprochen.«

Ich auch.

Und ich halte für ausgesprochen, dass man wieder für sie stimmen wird, weil:

Das deutsche Parlament sich kein Kontrollrecht über die wirkliche Führung der außenpolitischen Geschäfte verschafft hat; weil die übergroße Mehrheit der Arbeitervertreter kleinbürgerlich orientiert ist, eine Sicherheit, die Hungerlöhne bringt, einem Kampf vorziehend, der der Parteiorganisation und einem Apparat schaden kann, der längst Selbstzweck geworden ist; weil die Arbeiter durch ihre schlechte Presse unaufgeklärt und müde sind; weil die Macht der Sozialdemokratie auf der Zerfahrenheit der Kommunistischen Partei basiert – und weil es in Deutschland noch keinen tatkräftigen, kämpferischen, wahrhaft antimilitaristischen Gedanken in den Massen gibt, Unlust ist keine Waffe, Verärgerung kein Prinzip, Gleichgültigkeit keine Idee.

Der Druckfehler hat die Wahrheit gesprochen, Daudet soll wieder ins Körbchen gehen und andre Leute in die Waden beißen: es fehlt eine pazifistische Mobilmachung für den Krieg.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 28.09.1926, Nr. 39, S. 486.