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Wie sich der deutsche Stammtisch Paris vorstellt

Alle Woche habe ich hier in Paris einmal eine vergnügte Stunde: das ist, wenn ich mir von den deutschnationalen und deutschvölkischen Zeitungen erzählen lasse, wie es in Paris zugeht.

Eine Tageszeitung wird bekanntlich vom Leser geschrieben. Da der Leser keine Zeit hat, sie selbst zu schreiben – denn eine Talentfrage ist dies nicht –, so beauftragt er damit die Redakteure. Die schreiben genau das, was der Leser schriebe, wenn er schreiben könnte. Soweit Paris in Frage kommt, sieht das so aus:

Paris ist eine Stadt, deren weibliche Bewohner meistens in horizontaler Lage anzutreffen sind, und deren männliche, champagnerbesoffen, hysterisch nach dem Kopf Hindenburgs rufen. Das degenerierte Volk der Franzosen wälzt sich in nackten Paaren auf den Boulevards, ruft abwechselnd »Gloire!« und »à Berlin!« und hat überhaupt kein Nationalgefühl, darum wird es nächstens untergehen, und viel zu viel Nationalgefühl, darum wird Deutschland nächstens untergehen. Das Nähere siehe bei Otto Ernst, der, nach seinen Schreibereien zu schließen, den Nachttopf seines lieben Enkelchens als Tintenfaß benutzt.

Allen voran die ›Deutsche Zeitung‹. Die hat meines Wissens in Paris keinen Berichterstatter, der sich als solcher ausgibt, zitiert ihn aber munter, wenn sie ihre Lügen über Frankreich an den Stammtisch bringt. Von einer französischen medizinischen Erfindung: »In der Seinestadt brüllen es die Zeitungsverkäufer in den Straßen, in Deutschland spricht man nicht darüber. Da ist es akademische und wissenschaftliche Selbstverständlichkeit. Hier aber muß auch die Wissenschaft in ekelhafter sensationeller Weise ausgebeutet werden.« Nicht ein Komma davon ist wahr.

Und es scheint mir an der Zeit, diesen verbrecherischen Lügen, diesen halbgebildeten Schmöcken gegenüber, die von ›Inflationsorgien‹, von ›Hunger in den pariser Straßen‹, vom ›Großstadttaumel‹ sprechen, die Wahrheit zu sagen, die deren Leser freilich nicht erreichen wird.


Die französische Inflation ist mit der deutschen Inflation nicht zu vergleichen. Hier ist keine Regierung, die die Inflation böswillig anzettelt, um ihre auswärtigen Gläubiger zu täuschen, hier ist kein betrügerischer Bankrott, und hier ist eine viel größere Disziplin des kleinen Mannes und ein viel größeres Vertrauen zum Land.

Die tägliche Lebenshaltung der kleinen Beamten, der Angestellten und der Arbeiter ist, mit dem Frieden verglichen, schwieriger geworden; die bürgerliche Geselligkeit hat darunter gelitten, die Kultur leidet darunter. Von Erscheinungen, wie sie der tragische Karneval der deutschen Inflation gezeitigt hat, ist in Frankreich überhaupt keine Rede, und es ist eine böswillige Erfindung, von »Lockerung der ohnehin leichten französischen Moral« zu sprechen. Das französische Bürgertum ist, in Paris und in der Provinz weitaus spießiger, kleinlicher und zurückhaltender als die gleiche deutsche Schicht – jeder deutsche Großstädter, jeder deutsche Mittelstädter wirkt diesen Leuten gegenüber fast amerikanisch-smart. Es handelt sich nicht darum, hier Urteile abzugeben oder Vergleiche zu Gunsten der einen oder der andern Nation anzustellen: es handelt sich darum, Tatsachen mitzuteilen.

Neben der ausgesprochenen Böswilligkeit der Redakteure vom ›Berliner Lokalanzeiger‹ bis zu den völkischen Organen steht ihre Unfähigkeit zu sehen. So weit diese Tröpfe überhaupt französisch können, schreiben sie französische Zeitungen aus und ab, und so kommen diese Radau- und Skandalberichte zustande, die sich meistens auf die ›faits divers‹ (zu deutsch Schmus) der französischen Presse stützen. Es gibt aber ein ganz falsches Bild, wenn man Nachrichten aus dem ›Matin‹ nach ihrer Aufmachung mit dem Auge des deutschen Zeitungslesers beurteilt. Die französische große Nachrichtenpresse ist sehr stark auf den Einzelverkauf abgestellt und befriedigt auch sonst, heftig amerikanisiert, die Tatsachenneugier der kleinen Leute. Man findet im ›Matin‹ und noch mehr im ›Journal‹ und im ›Petit Journal‹ auf der ersten Seite den letzten Raubmord mit Fotografie, aber es ist geradezu widersinnig, danach auf die wirkliche Geistesverfassung des französischen Volkes und auf die wirklichen Zustände in Frankreich zu schließen. Die Zeitung übt in Frankreich denselben Einfluß aus wie überall; aber sie wird lange nicht so ernsthaft genommen, wie beispielsweise in Deutschland, sondern sie wird gelesen und häufig mit einem Achselzucken weggeworfen.

Weil nun aber die traurigen Abgesandten des Herrn Hugenberg und der deutschnationalen Telegrafenagenturen nichts von Frankreich kennen als sich selbst und vierzig Zeitungen, so ergäbe sich schon dann ein total falsches Bild, wenn diese Journalisten ehrlich arbeiteten. Das tun sie aber nicht, sondern sie fälschen. Sie fälschen den Volkscharakter dieses ultrabourgeoisen Landes zu einer tobsüchtigen und bösartigen Gesinnung um, sie fälschen die Figur der arbeitsamen und anständigen französischen Frau zur Allerweltskokotte, sie fälschen den wahrhaft friedfertigen französischen Volkswillen, der seine Ruhe haben will, zur Mentalität eines heulenden Irrenhauskandidaten.

So geht das jahraus, jahrein, und der von der Republik reichdotierte Pensionsoberst in Prenzlau spürt seine Hämorrhoiden weniger, wenn er mit Wonne liest, wie verderbt, wie degeneriert, wie verkommen Frankreich sei. Nun, solche Fememorde wie anderwärts sind hier nicht an der Tagesordnung; auch hat Frankreich eine Justiz. Aber immerhin ist dieses lügenhafte Geschwätz nicht ungefährlich.

Es ist heute zwölf Jahre her, dass das deutsche Volk geglaubt hat, zwei Fensterreden des Filmschauspielers Wilhelm und ein Aufmarsch an der französischen Grenze genügen, um ein ganzes Volk in den Boden zu rennen. Die Deutschen sind damals über den wahren französischen Volkscharakter, der in schlimmen Augenblicken seltsam kaltblütig die letzte Kraft zusammenzureißen pflegt, ebenso getäuscht worden, wie über die wahre Weltgeltung Frankreichs, die ein guter Werwolfmann nicht gelten läßt, weil er sie nicht kennt. Er wird darin auf das prächtigste von seinen Zeilenschindern unterstützt.

Man hat dieser Tage in Paris ein großes Institut für die geistige Zusammenarbeit der Völker Europas eingeweiht. Das ist für die Katze, so lange der Einfluß dieser käuflichen und gemeinen Presse weiter bestehen bleibt, so lange der deutsche Stammtisch seine politische Weisheit aus solchem Augenwischpapier bezieht.

Sie haben uns schon einmal in einen Krieg hineingehetzt, sie werden es wieder tun. An uns ist es, den verderblichen Einfluß dieser Presse mit den äußersten Mitteln zu bekämpfen.

Ignaz Wrobel
Das Andere Deutschland, 06.02.1926.