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Tiefe Erklärungen

17.

Tiefe Erklärungen. — Wer die Stelle eines Autors „tiefer erklärt“, als sie gemeint war, hat den Autor nicht erklärt, sondern verdunkelt. So stehen unsre Metaphysiker zum Texte der Natur; ja noch schlimmer. Denn um ihre tiefen Erklärungen anzubringen, richten sie sich häufig den Text erst daraufhin zu: das heißt, sie verderben ihn. Um ein kurioses Beispiel für Textverderbnis und Verdunkelung des Autors zu geben, so mögen hier Schopenhauers Gedanken über die Schwangerschaft der Weiber stehen. Das Anzeichen des steten Daseins des Willens zum Leben in der Zeit, sagt er, ist der Koitus; das Anzeichen des diesem Willen aufs Neue zugesellten, die Möglichkeit der Erlösung offenhaltenden Lichtes der Erkenntnis, und zwar im höchsten Grade der Klarheit, ist die erneuerte Menschwerdung des Willens zum Leben. Das Zeichen dieser ist die Schwangerschaft, welche daher frank und frei, ja stolz einhergeht, während der Koitus sich verkriecht wie ein Verbrecher. Er behauptet, dass jedes Weib, wenn beim Generationsakt überrascht, vor Scham vergehen möchte, aber „ihre Schwangerschaft, ohne eine Spur von Scham, ja mit einer Art Stolz, zur Schau trägt“. Vor allem lässt sich dieser Zustand nicht so leicht mehr zur Schau tragen, als er sich selber zur Schau trägt; indem Schopenhauer aber gerade nur die Absichtlichkeit des Zur-Schau-Tragens hervorhebt, bereitet er sich den Text vor, damit dieser zu der bereitgehaltenen „Erklärung“ passe. Sodann ist das, was er über die Allgemeinheit des zu erklärenden Phänomens sagt, nicht wahr: er spricht von „jedem Weibe“; viele, namentlich die jüngeren Frauen, zeigen aber in diesem Zustande, selbst vor den nächsten Anverwandten, oft eine peinliche Verschämtheit; und wenn Weiber reiferen und reifsten Alters, zumal solche aus dem niederen Volke, in der Tat sich auf jenen Zustand etwas zugute tun sollten, so geben sie wohl damit zu verstehen, dass sie noch von ihren Männern begehrt werden. Dass bei ihrem Anblick der Nachbar und die Nachbarin oder ein vorübergehender Fremder sagt oder denkt: „sollte es möglich sein —“, dieses Almosen wird von der weiblichen Eitelkeit bei geistigem Tiefstande immer noch gern angenommen. Umgekehrt würden, wie aus Schopenhauers Sätzen zu folgern wäre, gerade die klügsten und geistigsten Weiber am meisten über ihren Zustand öffentlich frohlocken: sie haben ja die meiste Aussicht, ein Wunderkind des Intellekts zu gebären, in welchem „der Wille“ sich zum allgemeinen Besten wieder einmal „verneinen“ kann; die dummen Weiber hätten dagegen allen Grund, ihre Schwangerschaft noch schamhafter zu verbergen als alles, was sie verbergen. — Man kann nicht sagen, dass diese Dinge aus der Wirklichkeit genommen sind. Gesetzt aber, Schopenhauer hätte ganz im allgemeinen darin recht, dass die Weiber im Zustande der Schwangerschaft eine Selbstgefälligkeit mehr zeigen, als sie sonst zeigen, so läge doch eine Erklärung näher zur Hand als die seinige. Man könnte sich ein Gakkern der Henne auch vor dem Legen des Eies denken, des Inhaltes: Seht! Seht! Ich werde ein Ei legen! Ich werde ein Ei legen!