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Sentimentalität in der Musik

168.

Sentimentalität in der Musik. — Man sei der ernsten und reichen Musik noch so gewogen, um so mehr vielleicht wird man in einzelnen Stunden von dem Gegenstück derselben überwunden, bezaubert und fast hinweggeschmolzen; ich meine: von jenen allereinfachsten italienischen Opern-Melismen, welche, trotz aller rhythmischen Einförmigkeit und harmonischen Kinderei, uns mitunter wie die Seele der Musik selber anzusingen scheinen. Gebt es zu oder nicht, ihr Pharisäer des guten Geschmacks: es ist so, und mir liegt jetzt daran, dieses Rätsel, dass es so ist, zum Raten aufzugeben und selber ein wenig daran herumzuraten. — Als wir noch Kinder waren, haben wir den Honigseim vieler Dinge zum erstenmal gekostet, niemals wieder war der Honig so gut wie damals, er verführte zum Leben, zum längsten Leben, in der Gestalt des ersten Frühlings, der ersten Blumen, der ersten Schmetterlinge, der ersten Freundschaft. Damals — es war vielleicht um das neunte Jahr unseres Lebens — hörten wir die erste Musik, und das war die, welche wir zuerst verstanden, die einfachste und kindlichste also, welche nicht viel mehr als ein Weiterspinnen des Ammenliedes und der Spielmannsweise war. (Man muss nämlich auch für die geringsten „Offenbarungen“ der Kunst erst vorbereitet und eingelernt werden: es gibt durchaus keine „unmittelbare“ Wirkung der Kunst, so schön auch die Philosophen davon gefabelt haben.) An jene ersten musikalischen Entzückungen — die stärksten unseres Lebens — knüpft unsere Empfindung an, wenn wir jene italienischen Melismen hören: die Kindes-Seligkeit und der Verlust der Kindheit, das Gefühl des Unwiederbringlichsten als des köstlichsten Besitzes — das rührt dabei die Saiten unsrer Seele an, so stark wie es die reichste und ernsteste Gegenwart der Kunst allein nicht vermag. — Diese Mischung ästhetischer Freude mit einem moralischen Kummer, welche man gemeinhin jetzt „Sentimentalität“ zu nennen pflegt, etwas gar zu hoffärtig, wie mir scheint — es ist die Stimmung Faustens am Schlusse der ersten Szene — diese „Sentimentalität“ der Hörenden kommt der italienischen Musik zugute, welche sonst die erfahrenen Feinschmecker der Kunst, die reinen „Ästhetiker“, zu ignorieren lieben. — Übrigens wirkt fast jede Musik erst von da an zauberhaft, wo wir aus ihr die Sprache der eigenen Vergangenheit reden hören: und insofern scheint dem Laien alle alte Musik immer besser zu werden, und alle eben geborene nur wenig wert zu sein: denn sie erregt noch keine „Sentimentalität“, welche, wie gesagt, das wesentlichste Glücks-Element der Musik für jeden ist, der nicht rein als Artist sich an dieser Kunst zu freuen vermag.