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Die große Gefahr der Gelehrten

179.

Die große Gefahr der Gelehrten. — Gerade die tüchtigsten und gründlichsten Gelehrten sind in der Gefahr, ihr Lebensziel immer niedriger gesteckt zu sehen und, im Gefühl davon, in der zweiten Hälfte ihres Lebens immer missmutiger und unverträglicher zu werden. Zuerst schwimmen sie mit breiten Hoffnungen in ihre Wissenschaft hinein und messen sich kühnere Aufgaben zu, deren Ziele mitunter durch ihre Phantasie schon vorweggenommen werden: dann gibt es Augenblicke wie im Leben der großen entdeckenden Schiffahrer, — Wissen, Ahnung und Kraft heben einander immer höher, bis eine ferne neue Küste zum ersten Male dem Auge aufdämmert. Nun erkennt aber der strenge Mensch von Jahr zu Jahr mehr, wie viel daran gelegen ist, dass die Einzelaufgabe des Forschers so beschränkt wie möglich genommen werde, damit sie ohne Rest gelöst werden könne und jene unerträgliche Vergeudung von Kraft vermieden werde, an welcher frühere Perioden der Wissenschaft litten: alle Arbeiten wurden zehnmal gemacht, und dann hatte immer noch der elfte das letzte und beste Wort zu sagen. Je mehr aber der Gelehrte dieses Rätsel-Lösen ohne Rest kennen lernt und übt, um so größer wird auch seine Lust daran: aber ebenso wächst auch die Strenge seiner Ansprüche in bezug auf das, was hier „ohne Rest“ genannt ist. Er legt alles beiseite, was in diesem Sinne unvollständig bleiben muss, er gewinnt einen Widerwillen und eine Witterung gegen das Halb-Lösbare, — gegen alles, was nur im Ganzen und Unbestimmteren eine Art Sicherheit ergeben kann. Seine Jugendpläne zerfallen vor seinem Blicke: kaum bleiben einige Knoten und Knötchen daraus übrig, an deren Entknüpfung jetzt der Meister seine Lust hat, seine Kraft zeigt. Und nun, mitten in dieser so nützlichen, so rastlosen Tätigkeit überfällt ihn, den Ältergewordenen, plötzlich und dann öfter wieder ein tiefer Missmut, eine Art Gewissens-Qual: er sieht auf sich hin, wie auf einen Verwandelten, als ob er verkleinert, erniedrigt, zum kunstfertigen Zwergen umgeschaffen wäre, er beunruhigt sich darüber, ob nicht das meisterliche Walten im kleinen eine Bequemlichkeit sei, eine Ausflucht vor der Mahnung zur Größe des Lebens und Gestaltens. Aber er kann nicht mehr hinüber, — die Zeit ist um.