Psychische Mittel
Psychische Mittel (Medicamina psychica) gegen chronische Nervenübel und Seelenstörungen. Sehr wichtig sind für den Arzt und Laien alle psychischen Einwirkungen, in so fern sie von der Seele und dem Gemüt aus manche hartnäckige Nervenübel: Hypochondrie, Epilepsie, Hysterie u. s. w. ohne die geringste Arznei aus der Apotheke heilen „Alle die mannigfaltigen körperlichen Übel“ — sagt Osiander a. a. O. S. 108 sehr richtig: — „Druck und schmerzhafte Empfindungen im Herzen und im Unterleib, Herzklopfen, Kopfweh u. s. w. an denen Hypochonder und Hysterische leiden, und bei ihnen unheilbar eingewurzelt zu sein scheinen, verschwinden oft auf bloße psychische Einwirkungen, wobei das schöne System Stahl’s (dessen Hauptsatz ist, dass die Seele den Körper baue. Most) im schönsten Lichte erscheint. Nicht nur mächtige Eindrücke, durch freudige oder traurige Lebensereignisse veranlasst, haben jene günstige Wirkung auf solche Kranke; sondern sehr oft auch höchst geringfügige und scheinbar unbedeutende Ereignisse. Man hat gesehen, dass die Hypochondrie geheilt wurde durch bloße Ortsveränderung, durch veränderte Beschäftigung, vermehrte oder verminderte Anstrengung des Geistes, veränderte Gesellschaft, und dass Anfälle der tiefsten Hypochondrie und Melancholie durch Musik, durch die Anstrengung des Glockenläutens, ja durch das Vertauschen eines alten mit einem neuen reinlichen Anzug, neben sorgfältigem Kämmen, Rasieren und Waschen, gehoben worden.“
Die französische Revolution hat durch ihre Schrecken auf psychische Weise Tausende von hysterischen Weibern und hypochondrischen Männern völlig geheilt, indem diese Individuen keine Zeit hatten, an ihre Krankheit zu denken, sondern nur daran, wie sie sich schützen, ihr Leben retten, das Vaterland fliehen und sicher über die Grenzen gelangen und in fremden Landen einen Zufluchtsort finden könnten. Wie mancher reiche Baron, Graf und sonstige Begüterte musste damals, zur Zeit der ersten Revolution in Frankreich (von 1789—1794) und der Schreckenszeit, Haus und Hof bei Nacht und Nebel mit den Seinigen verlassen, allen Bequemlichkeiten des Lebens, allen Genüssen der Tafel u. s. w. entsagen, zu Fuß in der Dunkelheit der Nacht zur Grenze wandern, die wenigen Habseligkeiten, die er gerettet, auf dem eignen Rücken tragen und manchen Tag Gott danken, wenn er statt des früher gewohnten Genusses von Braten, Torten, Pasteten und Wein, nur mit trocknem Brote, Wasser und Milch Hunger und Durst stillen konnte. Dazu kommt noch die ungewohnte Anstrengung des Körpers, das Fußreisen, der tägliche Genuss der freien Luft, überhaupt die ganz veränderte Lebensweise, — Alles Dinge, welche zur Heilung eingewurzelter, durch Verweichlichung, Verzärtelung und verkehrte Erziehung, so wie durch Erblichkeit entsprungener Nervenübel: der Hypochondrie, Hysterie, Epilepsie, Melancholie u. s. w. oft mehr beitragen, als alle Arzneien (vgl. oben die Artikel: Gesundheitsregeln, Jagd, Landluft und Massieren des Körpers).
Das Gebiet der psychischen Hausmittel gegen genannte Übel ist übrigens sehr gross. Jeder tüchtige praktische Arzt wirkt nicht allein wohltätig auf seine Patienten durch Arzneimittel aus der Apotheke, sondern auch durch seinen, von der Vernunft ausgehenden Willen, durch die Heilkraft des Geistes, durch Lauterkeit und Reinheit des Gemüts, durch Festigkeit des Charakters.
Auch das Reisen wirkt nicht allein auf Hypochonder und Hysterische wohltätig durch Körperbewegung und frische Luft, sondern auch gleichzeitig auf psychische Weise, indem die tägliche Ortsveränderung, der Wechsel von Berg und Tal, von Städten, Dörfern und Menschen, von Kunst- und Naturgegenständen vielfältig und angenehm den Geist beschäftigt, die niederschlagende Gemütsstimmung unterbricht, vom eignen Körper- und Seelenleiden die Aufmerksamkeit ablenkt und neue Lebenslust erweckt. Am zweckmäßigsten ist hier das Reisen zu Fuß oder zu Pferde. Die stärkende und erheiternde Wirkung des Fußreisens hat Niemand besser geschildert, als Seume. Man lese dessen Schrift: „Spaziergang nach Syrakus.“ — Der große Arzt Sydenham (Opp. L. B. 1754 p. 414) verordnete einem gelehrten, in tiefe Hypochondrie verfallenen Geistlichen, nachdem die kräftigsten Arzneimittel fruchtlos und ohne alle Erleichterung gebraucht worden, das tägliche Reiten. Der Kranke fing mit kleinen Spazierritten an und setzte dies so beharrlich fort, dass er sich gewöhnte, zu jeder Jahreszeit täglich viele Meilen weit zu reiten und große Reisen zu Pferde zu machen, wodurch er gänzlich hergestellt wurde. —
Wenn der Grund der Hypochondrie in der Regel in Unterleibsstockungen, Hämorrhoidalkongestionen, in Überfüllung der Blutgefässe der Leber, der Milz u. s. w. und in zu träger Blutzirkulation in allen Organen des Unterleibes gesucht werden muss; so lässt sich die gute Wirkung des Reitens hier leicht erklären, indem dasselbe alle Unterleibsorgane auf eine wohltätige Weise erschüttert, so jene Stockungen löst, den Kreislauf belebt und somit die Ursache der hypochondrischen Beängstigung, Bauchspannung und trüben Gemütsstimmung entfernt. Aber auch hier ist der psychisch wohltätige Einfluss: die Beschäftigung mit dem Pferde und dessen Lenkung, der Wechsel der Gegenstände u. s. w. mit in Anschlag zu bringen. — Nervöses Herzklopfen und hypochondrische Beängstigungen, die weder dem Aderlass, noch Abführmitteln, noch irgend einer anderen vielgerühmten Kurmethode weichen wollen, hören oft plötzlich auf, so wie der Kranke in den Wagen steigt oder die erste Station zurückgelegt hat. „Besonders ist für Nordländer“ — sagt Osiander (l. c. p. 102) — „eine Reise durch die Schweiz und Italien als Gegenmittel der Tristimanie und des Spleens berühmt, wobei nicht bloß die Bewegung unter einem sonnigen Himmel und der Anblick neuer, den Geist vielfältig aufregender Gegenstände, sondern auch der Umgang mit sanguinischen Menschen zur Erheiterung beiträgt.“
Nicht zu langweilige Seereisen gehören noch zu den besten Mitteln, die Hypochondrie zu verhüten und zu heilen. Der unsterbliche Herder versichert, sich nie wohler gefühlt zu haben, als auf dem Meere. „Der immerwährende Genuss der freien Luft, die großen Gegenstände von Meer und Himmel, Aufgang und Untergang der Sonne (so einzig auf der See!), die Nächte, die elektrisch funkelnden Meereswellen, der Sternenhimmel, Regen, Ungewitter, Gefahr — alles dieses wirkt groß und mächtig auf die Seele“ (s. Herder, Erinnerungen aus seinem Leben. 1820. Tl. I. S. 120).