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Mittel gegen Hypochondrie

Obgleich das Reisen gegen Hypochondrie allerdings das beste Mittel ist, so erlauben es dennoch oft die Verhältnisse solcher Kranken nicht, große Reisen zu unternehmen. Hier sind folgende Surrogate allen Hypochonder zu empfehlen:

1) Der Aufenthalt in einer großen, geräuschvollen Stadt. Solches Stadtleben wirkt auf sie wohltätiger, als das einförmige Landleben. Der tägliche Wechsel interessanter Hegebenheiten, die Zerstreuung, welche die immer bewegte Menschenmasse, die öffentlichen Belustigungen und andere Schauspiele gewähren, so wie der viel häufigere Anlass zu Bewegung und Muskelanstrengung durch die größeren Entfernungen u. s. w. ist dem Kranken heilsamer, als das stille, mehr kontemplative Landleben, welches den Geist leer und leicht in Schwermut versinken lässt (Osiander l. c. p. 104).

2) Das Ballspiel empfiehlt schon Galen; denn es bewegt gleichmäßig alle Teile des Körpers und erheitert den Geist.

3) Das tägliche Schwingen der sogenannten Halter, d, i. mit Handhaben versehener Bleikugeln, welche man, in jeder Hand einen, im Kreise perpendikulär an jeder Seite des Leibes gleichzeitig schwingt. Dieses schon von Aretaeus empfohlene Mittel dient auch zur Erweiterung des Brustkastens bei jungen Leuten mit platter Brust und Schwindsuchtsanlage.

3) Gartenarbeiten: Graben, Säen, Pflanzen u. s. w., Holzhauen und Holzsägen sind denen anzuempfehlen, die nicht reisen können.

4) Nichts wirkt wohltätiger auf Geist und Körper des Hypochonders, als Billard - und Kegelspiel. Letzterem gebe ich indessen, weil die Motion im Freien und in größerer Gesellschaft stattfindet, den Vorzug, zumal wenn nicht jeder Spieler einzeln für sich, sondern in Kompanie mit der Hälfte der Gesellschaft spielt, was man hier Hamburgern nennt, wobei es nie an Aufmunterung, Scherzen und Lachen fehlt.

5) Zu den psychischen Mitteln gegen Hypochondrie und Hysterie gehört auch erheiternde Lektüre. Hier sind zu empfehlen: Cervantes’ „Don Quixote“, Maitre Francois Rabelais’ „Gangantua et son fils Pantagruel“. 1552. Deutsch von G. Regis. Leipz. 1832, — „ein Buch, um das es sich schon allein verlohnt“ — sagt Osiander — „französisch zu verstehen, und welches Hans Fischart eine Arznei wider das Todtschiessen und Grillenfangen nennt“, — ferner: Knigge’s „Reise nach Braunschweig“ und „Reise zur Gevatterschaft“, Kotzebue’s „Lustspiele“, Müller’s „Siegfried von Lindenberg“, ein echter deutscher Don Quixote! Münchhausen’s „Reisen zu Wasser und zu Lande“, Langbein’s „Schwanke“ u. s. w.

6) Vernünftige Vorstellung und Belehrung, „dass die meisten Symptome der Hypochondrie, welche auf unheilbare organische Fehler hinzudeuten scheinen, fast immer nur die Wirkung krankhafter Gemüts- und Nervenstimmung Bind“, vermag oft viel. Hier ist der Beistand eines tüchtigen Arztes, eines kenntnissreichen Freundes u. s. w. von großem Nutzen; desgleichen, um die Willenskraft zu erhöhen, die Leetüre von Kant’s bekannter Schrift: „Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz, seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein“. Alle medizinische Schriften, zumal die über Hypochondrie, sind dem Kranken zu lesen, strenge untersagt.

7) Jede Derivation geistiger Art vom eigenen Körperzustande: Das Ergriffenwerden von jeder großartigen Idee — welches Herder sich auf dem Sterbebette wünschte, um den verlöschenden Lebensfunken wieder anzufachen und so dem Tode zu trotzen, — ein Unglück, der Tod geliebter Personen u. dergl. m., — alle diese Dinge haben erfahrungsgemäß durch ihren unerwarteten und erschütternden Eindruck auf die Psyche schon manchen an Hysterie, Hypochondrie, Melancholie und anderen Seelenstörungen Leidenden gebessert, ja völlig hergestellt. In wie fern aber die so wirksamen psychischen Mittel: Schreck, Furcht, Angst, Freude, Trauer u. s. w. in konkreten Fällen gegen genannte Seelen- und Körperleiden Anwendung finden, — dieses bleibt allein dem Scharfsinne des Arztes überlassen; denn der Laie könnte dadurch oft das Übel ärger machen.

Zu den unschädlichen derivierenden psychischen Mitteln rechne ich Veränderung in der täglichen Beschäftigung und den Reiz der Neuheit, so wie ein ungewöhnliches Interesse am auserwählten neuen Gegenstande. Einer meiner hypochondrischen Kranken, ein Schuhmacher, war fast nie ohne Arzt gewesen und seine jährliche Apothekerrechnung betrug zwischen 70 und 100 Talern. Auch ich gab ihm gute diätetische und arzneiliche Mittel. So pünktlich er auch letztere verschlackte, eben so nachlässig war er in Befolgung der erstem. Ich stellte allen Arzneigebrauch ein und versuchte ein psychisches Derivans. Ich wusste, dass Patient in mechanischen Arbeiten: Drechseln, Tischlerarbeit u. s. w. nicht ungeschickt sei. Ein altes Positiv, d. i. eine kleine Orgel, worauf ich früher wohl Choräle gespielt, war in Unordnung gekommen, ganz verstimmt und viele Pfeifen waren beschädigt. Ich übergab ihm dieses mit dem Wunsche, das Instrument nicht allein hergestellt zu sehen, sondern auch noch, dass Patient dasselbe sich genau ansehen und mir eine ähnliche neue Orgel machen möge. Diese neue Idee beschäftigte seinen Geist so sehr, dass er seine Krankheit gänzlich vergaß, mit dem größten Interesse den Orgelbau studierte und von der Zeit an größere und kleinere Orgeln, selbst im Preise von Tausend und mehreren Talern das Stück, verfertigte, seine Vermögensumstände dadurch verbesserte, auch weder Doktor, noch Apotheker Neujahrsrechnungen zu bezahlen hatte.

Ein anderer Hypochonder, ein 40jähriger Musikant, der auf dem Tanzboden Geige, Flöte oder Klarinette spielte, gebrauchte vergeblich manche Arzneien. Ich riet ihm, täglich vier bis sechs Maß kaltes Flusswasser zu trinken, sich jeden Morgen mit kaltem Wasser den ganzen Körper zu frottieren, täglich Kegel zu spielen und statt der Geige, der Flöte und der Klarinette sich Trompete und Posaune einzuüben, und dann diese zu blasen. Es wurde Alles pünktlich befolgt und der Musikant war in wenigen Wochen völlig von seiner Krankheit befreit. Drei Jahre später bekam er einen Rückfall. Ich riet wieder zum Wasser, zur Bewegung im Freien und zur Erlernung eines anderen musikalischen Instruments. Er wählte das Fortepiano, übte fleißig, brachte es bald zu einer gewissen Fertigkeit, gab nun Unterricht darin und — hatte keine Zeit, an sein Leiden ferner zu denken; er ignorierte es völlig, und somit existierte es auch nicht mehr für ihn.