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Schöne Sprache

Also die neuen und kühnen Gedanken allein können die schöne Sprache nicht ausmachen. Niemals noch ist Lessings gedankenträchtige, epigrammatische Sprache "schön" genannt worden. Ebensowenig findet man heute Shakespeares Bilderreichtum oder Goethes Weisheit "schön". Die Zeitgenossen aber haben Shakespeares wilde Bilderhetzjagd und Goethes ruhige Gegenständlichkeit gerade schön gefunden. Das schien der melancholischen Ansicht zu widersprechen, die sich später in mir bildete, schöne Sprache heiße eine Kette von Allerweltsgedanken, von verbrauchten Gedanken, von Gedanken aus zweiter Hand. Auf Schiller paßt diese Erklärung. Niemand wird daran denken, den gedrungenen Sachstil aus Kants bester Zeit "schön" zu nennen, trotzdem Kant je nach dem Thema — eben der Sache zuliebe — bald eigensinnig zopfig und abstrakt, bald eigen sinnig und anmutig werden konnte. Erst Schiller machte Kants Gedanken zu einer schönen Sprache, indem er das Tiefste nicht sah oder nicht verstand und die seichte Oberfläche mit Anmut und Würde bewegte. Was also das Publikum schöne Sprache nennt, das ist wirklich nur eine Folge von wohlfeilen Gedanken, die durch Anlehnung an die philosophische Tagesmode den Wert der höchsten Gedanken zu haben scheinen.

Vielleicht liegt die Sache bei Shakespeare und Goethe nicht viel anders, soweit es das Publikum angeht. In Shakespeare fand der geehrte Zeitgenosse alle wissenswerten neuen Kenntnisse der Renaissance zu Wortspielen und Bildern umgemünzt. Das gefiel den Leuten. Wir stehen heute bewundernd vor seiner Charakterisierungskraft und täten gut daran, in einer frechen neuen Übersetzung die schöne Sprache seiner Zeit mit Stumpf und Stiel auszurotten.

Bei Goethe wieder fand das zeitgenössische Publikum den neuen Seelenegoismus, die Revolution des einzigen gegen das Allgemeine, mit leidenschaftlicher Kraft ausgesprochen. Und so fand man in Werther und in Wilhelm Meister eine schöne Sprache, trotzdem das eine Buch wie ein hinreißendes Drama geschrieben ist, das andere kalt wie das Lehrbuch eines Ironikers. Wir lesen heute über das Schluchzen des Seelenegoismus hinweg und halten uns an die Leidenschaft und die Ironie.

So scheint schöne Sprache also immer zu bedeuten, daß das Publikum die Gedanken des Dichters schön findet und daß diese Gedanken die dem Publikum gemeinen sind, daß ferner, wenn einmal die Gedanken eines überlegenen Geistes ebenfalls schöne Sprache genannt werden, dies davon kommt, daß der überlegene Geist in seinem Wert erst von der Nachwelt begriffen wird, in seiner Schwäche aber stets etwas den Zeitgenossen Gemeinsames besitzt. So kann es geschehen, daß ein Kind in einem vorzüglich ausgestatteten botanischen Garten spazieren geht, verstummt und plötzlich ein paar Gänseblümchen auf der Wiese schön findet, weil die ihm allein geläufig sind.

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