Zum Hauptinhalt springen

Poesie und Begriffe

Fragt man einen Schüler oder einen Schulmeister, was ein Begriff sei, so wird er etwa antworten: eine Allgemeinvorstellung, die von Einzelvorstellungen "abstrahiert" sei. Wir haben — nach solchen Schulmeistern — unzählige Einzelvorstellungen von Bäumen, wir kennen Tannen, Eichen, Nußbäume u. s. w., wir kennen viele Arten Tannen, vor. jeder Art wieder unzählige Individuen. Wir ziehen nun von diesen Bildern — nach der landläufigen Lehre — das Zufällige ab: die Größe, die Farbe, die Form der Blätter u. s. w. und erhalten so die Allgemeinvorstellung, den Begriff.

Daß es so nicht in unserem Kopfe zugehe, das hat schon der phantastische Berkeley gegen Locke behauptet, und zwar sehr scharf. Er könne sich nicht ein Dreieck vorstellen, das nicht eine bestimmte Form habe, spitz-, recht- oder stumpfwinklig sei.

Daß unsere Allgemeinvorstellungen oder Begriffe durch Abstraktionen entstehen, das kann man bei hohlen Nüssen wie: Tugend, Unsterblichkeit u. dgl. den Leuten einreden. Sowie aber die Wirklichkeitswelt verglichen wird, dürfte es ohne Beweis einleuchten, daß es eigentlich Allgemeinvorstellungen gar nicht gibt, daß es in unserem Gedächtnis nur ähnliche, ineinander fließende, verwaschene Vorstellungen gibt, die in Vorrat hinter dem Begriff stehen, und aus denen die Phantasie immer diejenigen hervorlangt, die sie gerade braucht oder die ihr die unbewußte Assoziation zuführt.

Wobei nicht zu vergessen ist, daß nur wenige Menschen beim Wortgebrauch es auch für nötig halten, den einzelnen Begriff oder das Wort jedesmal aus dem Vorrat der Vorstellungen zu speisen und sie so lebendig zu machen oder zu erhalten. Der gewöhnliche Romanleser (wie der sudelnde Schreiber) stellt sich bei Sätzen wie: "Die Pferde trabten durch die Heide'' gar nichts vor, und wenn er die ihm wohlbekannten Worte dennoch zu verstehen glaubt, so kommt es daher, daß eben der Vorstellungsvorrat hinter den Begriffen steht, wie die unendliche Melodie des Wagnerschen Orchesters hinter den gesungenen Worten, und daß unbewußt bei "Pferd", "traben", "Heide" irgend etwas Nebelhaftes mitklingt. Daher die vielen albernen Romanphrasen, die den Spaß des Kladderadatsch machen. "Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und streckte dem Grafen die aristokratisch feine Rechte entgegen." Das kann der Sudler nur schreiben, weil er den Begriff ohne Vorstellung gebraucht. Und dabei ist er doch gewiß noch phantasiereicher als sein Leser, als Peter und Paul.

Ebenso vorstellungslos gebraucht die Wissenschaft ihre Worte, nur daß sie sie mit einer gedankenlosen Zuversicht wie unveränderliche mathematische Zeichen anwendet. "Das Pferd ist ein Säugetier", wird fast ohne jede Vorstellung gesagt.

So geht es beim gewöhnlichen Wortgebrauch des Schwätzers und des Gelehrten zu. Anders wird es, wenn die Sprachforschung oder eine Verlegenheit uns zwingt, grelles Licht auf einen Begriff oder ein Wort fallen zu lassen; wir fühlen dann, wie sich eine Fülle von Einzelvorstellungen vor das Nadelöhr unseres Bewußtseins drängt, bereit, hindurchzugehen und den Begriff lebendig zu machen. Wir können dann rasch sehr viel nacheinander vorstellen und haben die Selbsttäuschung einer Allgemeinvorstellung.

Da nun aber die Erinnerung an eine Einzelvorstellung wohl verblassen und verschwimmen, aber niemals sich recht eigentlich mit einer anderen verbinden kann, so scheint ein Zustandekommen ehrlicher Allgemein Vorstellungen oder Begriffe geradezu unmöglich. Was ist es nun, was uns doch in uns als Allgemeinvorstellung oder Begriff, außer uns als Wort so wohl bekannt ist?

Eine Vermischung, wie sie sonst im Träumen stattfindet, und wie sie im Wachen nur möglich ist durch Mitwirkung der sogenannten Phantasie, der dichterischen Phantasie, welche ja mit dem Träumen so viele Ähnlichkeit hat. Ohne diese Mitwirkung war keine Sprache, war kein einziger Begriff möglich. Ein dichterisches Genie war, wer in Urzeiten zuerst seine Einzelvorstellungen von Tannen, Eichen u. s. w. durch das Lautzeichen "Baum" festhalten konnte, und nur wieder eine Art dichterischer Phantasie knüpft heute noch an das Wort "Baum" lebhafte Vorstellungen.

Dabei stimmt es gut zu meiner Lehre, daß nämlich die Brache durch Metaphern entstanden ist und durch Metaphern Wachst, wenn dichterische Phantasie die Worte immer wieder ergänzen und beleben muß.

* * *