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Razzia auf Literarhistoriker

Januar 1912

Wo ich geh’ und steh’, wimmelt es jetzt von Literarhistorikern, also von Historikern, die in keinem Zusammenhang mit der Literatur stehen und darum nur Literarhistoriker heißen. Was soll ich mit den Leuten anfangen? Ich will die, die es schon sind, verstümmeln und darum die nachfolgenden verhindern. Ich will das Handwerk verächtlich machen. Ich will den Totengräbern zeigen, daß der Henker mehr Ehre aufhebt. Ich sammle die Fälle und bitte um Unterstützung. Stille Kreuzottern zu töten, ist schnöde und der steirische Landtag zahlt für jede zwölf — (hier will sich mir eine unerwünschte Ideenassoziation mit Herrn Rudolf Hans Bartsch ergeben). Ich zahle für jeden Literarhistoriker dreizehn Heller. Man folge mir in die Seminare, aber man scheue auch die Redaktionen nicht. Gerade dort nisten sie.

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Wer es aber riskieren will, gar die Konversationslexika auf Literatur hin anzusehen, kann sich um diese verdient machen. Ich meide den Anblick von Supplementbänden. Ich fürchte, daß darin Biographien von Lothar, Müller und Wertheimer enthalten sind.

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Einmal habe ich mich dafür interessiert, wann Laurence Sterne gestorben sei und wann — da es doch nun einmal der Fall ist — Max Kalbeck geboren. Ich fand, daß über diesen genau so viel stand, wie über jenen. Seit damals glaube ich, daß der Brockhaus, wenn er über die Entfernung der Kassiopeia von der Erde Auskunft gibt, von einer Clique bedient ist.

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Über Jean Paul fand ich die Bemerkung, er sei eigentlich kein Dichter gewesen, bezeichnend sei ja hiefür, daß er keine Verse geschrieben habe. Seit damals glaube ich, daß die Sphärenmusik von Charles Weinberger ist und das Buch der Schöpfung von Buchbinder.

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Einer, der’s gut mit mir meint, vermißte meine Biographie. Er teilte mir mit, er habe die Firmen Meyer und Brockhaus darauf aufmerksam gemacht, daß sie von ihren Vertretern am Wiener Platz infam belogen werden, weil die Fackel, wenn schon nicht, wie viele glauben, für den Geist, so doch für das Wiener Geistesleben mehr in Betracht komme, als die Werke des Herrn Dörmann. Die Firmen antworteten, daß sie sich auf ihre Vertreter verlassen müßten, und es blieb dabei, daß die Fackel selbst in der Rubrik »Wiener Zeitungswesen«, dem sogar die ›Pschüttkarikaturen‹ nachgerühmt wurden, fehlte. Zweifelt einer noch, daß ich die persönliche Sache aus anderen Motiven führe als weil sie das beste Beispiel für die allgemeine Unsachlichkeit ist? Glaubt einer noch, daß ich einen besseren Schulfall fände als mich? Mein Lebenslauf fühlt sich nur wohl dabei, wenn er von den Herren Walzel und Hauser nicht durch Beachtung aufgehalten wird. Der Strom mündet ins Meer und mit ihm fließt der Kehricht. Der Kehricht tut so, als ob’s ihm der Strom zu danken hätte. Aber es dürfte wohl das Gegenteil der Fall sein.

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Es werden erst dann bessere Zeiten kommen, wenn das Publikum endlich glauben lernen wird, daß ein Schuster echtere Beziehungen zur Lyrik hat, als eine Schuhfabrik oder gar ein Redakteur. Da solcher Glaube aber nie einreißen wird, so werden nie bessere Zeiten kommen. Also werden noch viele schlechte Lyrik-Anthologien kommen. »Deutsche Lyrik aus Österreich seit Grillparzer« hat einer ausgewählt und eine Berliner Verlagsfirma hat sie herausgegeben, jene, die den vornehmen Entschluß hatte, Speidel zu verlegen, den schlechten Geschmack, ihn von Herrn Wittmann zusammenstellen und von Herrn Benedikt einleiten zu lassen, und noch den traurigen Witz, ihm den Dichter Zifferer nachzusenden. Die deutsche Lyrik aus Österreich aber hat ein anderer Redakteur besorgt. Und so ist es möglich geworden, daß in einer Anthologie österreichischer Lyrik keine einzige der Begabungen vertreten ist, die sich in der Fackel geäußert haben. So ist es möglich geworden, daß in einer lyrischen Anthologie Redakteure vertreten sind. Daß Herr Salten in ein Lyrikbuch gehört, ist noch begreiflich; denn er gehört auch in eine epische, in eine dramatische, in eine satirische und überhaupt in jede bessere kommerzielle Anthologie, ist er doch in der achtfachen Buchführung zuhause wie nur einer. Aber noch von vielen anderen Herren, denen man’s bisher nicht zugetraut hätte, wird man mit Staunen erfahren, daß sie’s über sich gebracht und für den guten anthologischen Zweck sich zur Lyrik entschlossen haben. Nicht so sehr durch das also, was sie vermeidet, als durch das, was sie bringt, ist diese Anthologie eine gegen die Fackel gerichtete Anthologie. Sonst werden solche Sammelwerke ziemlich unbedenklich zusammengestellt. Hier ist ein Gesichtspunkt, und nicht nur die Dichter, sondern auch der Herausgeber hat ein Profil. Recht erstaunt war ich jedoch, als ich bemerkte, daß Moritz Necker nicht drin ist. Er ist eben doch kein Lyriker. Aber er hat sich wenigstens drüber geäußert. Zum Beispiel: daß die Verleger das Buch »mit vielen Porträts und erlesenem Geschmack ausgestattet haben«. Er dafür bespricht es mit Anerkennung und Stilblüten. Auch meint er, daß sich nunmehr »die deutsche Lyrik in Österreich ebenbürtig neben ihre Brüder im deutschen Reiche stellen darf.« Ich dachte, sie habe dort nur einen und der sei eine Schwester. Kenne sich der Teufel heutzutage mit den Geschlechtern aus! Wer vermöchte einen Literarhistoriker von einem Blaustrumpf zu unterscheiden? Wie Kraut und Rüben in einer Anthologie, liegen heute die Unwerte des Lebens durcheinander, und was man nicht definieren kann, ist eben Lyrik. Das Dichterbuch aus Österreich könnte so bleiben wie es ist: nur mein Name müßte auf dem Titelblatt stehen. Auch ich habe ja die Handel-Mazzetti und Herrn Bartsch als Lyriker zur Geltung gebracht. Ich würde auch die Proben des Herrn Felix Dörmann nicht scheuen, den Necker — frisch gewagt ist halb gewonnen — den »Schüler Baudelaires« nennt. Auch ich ließe mich bei der Auswahl der österreichischen Dichter »von rein künstlerischen Gesichtspunkten leiten«. Es sollte mir ein Kontoauszug der Betriebsamkeit werden, und ich wette, er gliche aufs Haar der »Deutschen Lyrik aus Österreich seit Grillparzer«. Necker brauchte sich um keinen neuen Waschzettel zu bemühen. Und vor allem ein Satz, den er geschrieben hat, wäre eines buntbewegten Inhalts treffender Ausdruck. Einer von jenen Sätzen, die ewig sind durch die Unbewußtheit dessen, was sie enthalten. Er spricht nämlich von Lyrikern, »die sich schon jeder ihren Platz auf dem Parnaß gesichert haben«. Welch ein Januskopf von einem Satz! Hier hat die Sprache einen Reporter verzaubert, und das Wunder geschah, daß einer, der ausging zu segnen, den stärksten Fluch fand, der eine Horde von Parnaßeinbrechern treffen konnte. Gewiß, sie haben sich schon jeder ihren Platz auf dem Parnaß gesichert. Im Vorverkauf, mit Agio, mit Überredung, mit Rippenstößen, mit Protektion. Weil sie sich angestellt oder weil sie die Billeteure des Parnaß bestochen haben. Oder weil ihr penetrantes Dasein jeden Widerstand hoffnungslos macht.

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Noch unwirtlicher aber ist’s jetzt auf dem Semmering. Nicht wegen der Tuberkeln, aber wegen der Talente. Ein Berliner Verleger ist angekommen und nunmehr sollen die Hotels dort oben den deutsch-österreichischen Anthologien gleichen. Herr Sami Fischer könne keine Stunde mehr am Busen der Natur ruhen, ohne daß ihm die Literatur den ihren hinhält. Zweihundert fein differenzierte Begabungen, die aber voneinander nicht zu unterscheiden sind, haben sich schon jede ihr Zimmer gesichert. Lungern ihm vor der Tür, laufen voran, lauern hinter Bäumen, machen Waldzauber. Führen dem Verleger die Wunder der Natur vor, kopieren den Hahnenschrei, um ihn zu wecken, machen ihm das Echo, melken ihn. Auf den Waldwegen, wo sonst nur Stullenpapiere und Kurszettel vorkamen, liegen jetzt Manuskripte und Kontrakte herum, und der Semmering, diese idyllische Zuflucht der Börseaner, ist zur Börse geworden. Das hat der Mann vor fünfundzwanzig Jahren sich nicht träumen lassen, und wenn er, nachdenklich wie er ist, die Zeiten vergleicht, mag er finden, daß zwar die Literatur mehr trägt, aber die Kommittenten der Möbelbranche bessere Manieren hatten. Wie verkennt mich der anonyme Esel, der mich neulich der Gemeinheit für fähig hielt, dem Manne einen »Vorwurf« daraus zu machen, daß er früher ein anderes Geschäft hatte. Es war kein Angriff auf die Möbelbranche, die ich für nützlich, ja für unentbehrlich halte und vor allem für ein ehrlicheres Geschäft als die Literatur. Ich habe ihr aber den Vorwurf nicht ersparen können, daß sie ihre Leute nicht halten kann und daß einer der Ihren und sicherlich der Besten einer sich auf Romane geworfen hat. Jetzt sieht er, in welche Gesellschaft er geraten ist.

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Am Sonntag treibt ein L. Hfld. gottlose Dinge. Allen Warnungen zum Trotz behauptet er:

Das ganze ist in einem hübschen, fabulierenden Ton erzählt, halb poetisch, halb nachdenklich, und namentlich die galanten Erfahrungen des ahnungslosen jungen Königs sind von liebenswürdiger An mut .... Kein lauter, übermütiger Humor, sondern einer von der stilleren, nachdenklichen Art, die lächeln macht.

L. Hfld.

Ein anderer gleichen Namens, der sich aber schon L. Fld. nennt, behauptet wieder, daß der nachdenkliche Blick des Kainz-Monuments auf dem Totenschädel Yoricks ruht, weil Kainz den Blick immer nachdenklich auf den Totenschädel gerichtet gehabt habe. Auch da und dort noch wird Ähnliches gewagt. Selbst von der stillen oder zärtlichen Wiener Landschaft wird gesprochen. Mit mir werden die Herren aber nicht fertig werden. Ich werde es dahin bringen, daß man auf jeden, der sich so fein benimmt, mit Fingern zeigt. Wie wenn einer irgendwo in eine stille Landschaft hineingetreten ist und darauf diskret aufmerksam gemacht wird, so wird es künftig sein: Ein Herr wird ersucht, sich ohne Aufsehen zu entfernen, und wenn er noch nach den Gründen fragt und es selbst nicht spürt, wird ihm gesagt werden: »Sie haben etwas Nachdenkliches an sich, die andern Herrschaften beschweren sich.« Und wenn er remonstriert, wird ihm bedeutet werden, daß er von stiller Anmut sei, die lächeln macht, und dann wird er hinausgeworfen. Wir wollen doch sehen, ob wir im Literaturteil nicht die Zimmerreinheit durchsetzen können, die sich im letzten Beisel von selbst versteht!

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Von Herrn Otto Hauser, einem Übersetzungsbureau, heißt es:

Otto Hauser ist eine Art Kardinal Mezzofanti für die deutsche Literatur, niemand weiß genau zu sagen, wieviel Sprachen er eigentlich beherrscht (einige davon so vollendet, daß er sogar eigene Gedichte in fremden Idiomen wagen durfte), aber nach seinen bisherigen Publikationen und der staunenswerten Leistung seiner Geschichte der Weltliteratur dürften es wohl mehr als zwanzig sein.

Ich möchte bei Hauser nicht übersetzen lassen, finde aber sein Wagnis, eigene Gedichte in fremde Idiome zu übersetzen, sympathisch. Mit den Übersetzern ist’s eine eigene Sache. Sie glauben immer, es genüge, wenn sie die andere Sprache können. Darum ist es wirklich nicht viel, wenn Hauser zwanzig Sprachen beherrscht, und wir, die nur deutsch sprechen, können uns dann eben zwanzigmal schwieriger mit ihm verständigen. Was haben wir denn davon, daß Hauser Gedichte des Li-Tai-Po lesen konnte? Übersetzt er sie in eine ihm fremde Sprache, so ist es ein Trugschluß, zu glauben, sie seien nun deutsch geworden, weil sie nicht mehr chinesisch sind. Zwanzig Sprachen zu beherrschen, ist eine traurige Eigenschaft, die den, der sie besitzt, früh welken macht. Was hat er von seinem Leben, wenn er immer Acht geben muß, daß ihm keine Verwechslung passiert? Unter allen Umständen mag eine solche Gabe den Betroffenen oft in Verlegenheit bringen, weil sich die Passagiere nur zu leicht versucht fühlen, ihn auch nach den Zugsverbindungen zu fragen. Nie jedoch würde es mir in den Sinn kommen, mir von einem athenischen Hotelportier die Odyssee übersetzen zu lassen. Am tragischen Fall Trebitsch hat es sich gezeigt. Zwischen dem Englischen und dem Deutschen war plötzlich jede Verständigung unterbrochen, und wenn wir auch nicht gerade bedauern mußten, daß uns die Kenntnis des dubiosen Herrn Shaw erschwert wurde, so war doch am Deutschen eine unerlaubte Handlung verübt worden. Wozu übersetzen? Es heißt eine Fliege mit zwei Schlägen treffen. Die Herren sollen, wenn sie Courage haben, in Privathäusern Lektionen geben. Mir kann’s ja egal sein, was mit dem Portugiesischen geschieht; daß sich mit dem Deutschen nicht spassen läßt, weiß ich zufällig. Wenn sich aber zwanzig Sprachen von Herrn Hauser beherrschen lassen, so geschieht ihnen recht.

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Aus einer Literaturkritik:

Kein Zweifel, die Novellenfolge bietet ein gutes Diner: die obligate Suppe, diskret, nur ein paar Löffel, ein Glas Sherry darin — ein sanfter Fisch, ein leicht verdauliches Entree, ein sorgsam gebratenes Fleisch mit der Jahreszeit entsprechenden Gemüsen — noch eine Platte Spargel, dann Eis —; aber, wie nach solchen Diners, ist man am Ende des Buches noch hungrig. Es war alles ganz gut, aber es war nichts, wobei man sagen müßte: deliziös! Oder, um diesen prosaischen Vergleich zu beenden: Der »Falke« dieser Novellen ist ein ausgestopfter, ein konservierter Falke .... Sorrent, das Meer — das ist mit echter Meisterschaft gemalt. Knapp, statt gedankenvoll. Lassen die anderen Erzählungen zuweilen daran denken, daß die Vorwürfe zu ihnen Brosamen von einem reichen Tisch sind — der »kindliche Knabe« ist vollwertige Produktion.

Bitte auch etwas Speisepulver!

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»Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte« von Albert Soergel. Mit 345 Abbildungen. A. Voigtländers Verlag, Leipzig. »Meiner Braut gewidmet.« — Solche Intimitäten werde ich dem Herrn bald abgewöhnt haben. Daß die Fortpflanzung der Literarhistoriker nicht erwünscht ist und tunlichst erschwert werden soll, habe ich bereits zu verstehen gegeben. Heiratet dennoch einer, so erspare er dem Publikum die Anzeige! Wäre ich ein Weib und fiele auf mich die Wahl, den Sörgel glücklich zu machen, weiß Gott, ich überlegte mir’s nach diesem Buch und täte es nicht. Über den Stil ist weiter nichts zu sagen, als daß die Befassung des Herrn Sörgel mit der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte purem Übermut entspringt. Oberflächlich wie ich bin, habe ich nur geblättert. Das tue ich immer und muß bekennen, daß ich mich eigentlich nur in meine eigenen Bücher vertiefen kann und auch nur, solange sie noch nicht erschienen sind. Hotelrechnungen und Literaturgeschichten überfliege ich; und merke doch sogleich, wenn dort etwas zu viel aufgeschrieben ist und hier etwas zu wenig. Und kenne doch den Sörgel weit besser als irgendeiner, der ihn studiert hat. Versenkte ich mich in ihn, so wäre ich bald unten durch; aber wenn ich ihn nur flüchtig berühre, so haben wir beide einen Jux davon. Ich behaupte also infolge oberflächlicher Kenntnis des neunhundert Seiten starken Werkes, daß es im Stil eines Chef de reception geschrieben ist, der aus den kleinen Verhältnissen von Zwickau (Sachsen) ohne Übergang in ein Hotel in Ostende geriet und sich dort einfach nicht auskennt. Er kommandiert mit den Leuten herum, belagert ihnen die Tür, wenn sie nicht auf die Minute die Wochenrechnung zahlen, will sie — in Ostende — eegalganz auf ihren Leumund prüfen und es kommt überhaupt zu peinlichen Weiterungen zwischen Zwickau und dem großen Leben. So scheint mir das Buch geschrieben. Alles was er über die Schönheit der Gegend in Reisebüchern gefunden hat, weiß das Männeken herunterzuschnattern, und ist dabei objektiv. »Nur so kann, meine ich, der Leser die literarischen Geisteskämpfe wirklich noch einmal erleben — als unparteiischer Zuschauer oder als Mitkämpfer auf der einen oder andern Seite: dem Leser ist oft die Wahl gelassen.« Badeabonnements, Eintrittskarten für den Gletscher besorgt die Direktion, Warmwasserheizung, Freiluft- und Liegekuren, photographische Dunkelkammer, eigene Hochwildjagd, feinstes Orchester, Lift, Forellenfischerei im Hause. Wie gewissenhaft und gerecht aber der Sörgel in der Literatur die Werte unterscheidet, beweist er hinreichend. Zum Beispiel: »Eine Zeitlang löste der Name Max Dreyer den Namen Otto Ernst aus. Nicht, daß Otto Ernst später als Dreyer in der Literatur heimisch wurde, mit ähnlichen Werken wie der Rostocker, nein: schon 1888 erschien von dem Hamburger Volksschullehrer Otto Ernst Schmidt ein Band Gedichte, ein Jahr später ein Band Essays ... Aber eine Zeitlang zwang das Volksschullehrerdrama ›Flachsmann als Erzieher‹ an das Schauspiel vom ›Probekandidaten‹ zu denken und eins mit dem andern zu vergleichen. Diese Gedankenverknüpfungen schwinden jetzt. Das Bild des Dramatikers Otto Ernst verblaßt, der Plauderer, der Erzähler, der Lyriker gewinnt. Zum Glück.« Über allem aber strahle das »Lächeln eines unbeirrten Optimismus«. Und nicht bloß, weil der Herr Otto Ernst geglaubt hat, »Die Liebe höret nimmer auf« werde im Burgtheater Kassa machen. Von Hermann Bahr »führen manche Fäden« zu dem nur wenig älteren Schnitzler. Aber ich durchschneide sie. Wedekind gegenüber kommt sich natürlich ein Hotelsekretär als Dichter vor. Denn »wenn Wedekinds Personen reden, dann reden sie ein schwulstiges Papierdeutsch, das halb der schlechten Zeitung, halb dem Kolportageroman angehört ... Dieser schwulstige oder stumpfe Stil ist mit daran Schuld, daß Wedekinds Dramen, hintereinander gelesen oder gesehen, bald langweilig werden.« Das schreibt der Mann, der sich »gezwungen« fühlt, Flachsmann als Erzieher mit dem Probekandidaten zu vergleichen und an beide zu denken. Solche Schweinerei ist heute in Deutschland möglich und wird dank ihr selbst und dank den schönen Bildeln, die ihr beigegeben sind, massenhaft unter den deutschen Familien abgesetzt. Vom Herrn Sörgel ist eben zu erfahren, was man über die modernen Dichter und Denker zu sagen hat, denn er hat nicht nur sämtliche Klischees und Waschzettel der letzten Jahrzehnte gelesen, nein, er weiß auch Bescheid, wer bei den Gründungen der Literaturvereine in den achtziger und neunziger Jahren im Gasthaus dabei war und daß eine hochfeine Bowle getrunken wurde. Er weiß Bescheid und tut ihn. Er hat sich sogar ein Porträt des Herrn Felix Holländer verschafft, der Sappermenter! Er weiß auch, daß dem Herrn Hanns Heinz Ewers, dem Commis voyageur ins Transzendente, fünf Seiten gebühren und Peter Altenberg zwei, Herrn Weigand sieben und Heinrich Mann drei, von den »Ausländern, die die deutsche Literatur entscheidend anregten«, d’Annunzio zwei Seiten und Strindberg eine halbe Zeile. Er weiß, daß in eine moderne Literaturgeschichte die delle Grazie und die Böhlau gehören, aber beileibe nicht die Else Lasker-Schüler. Er ist objektiv. Über Peter Altenberg hat er einen Geburtstagsartikel aufgepickt und da gelesen, daß ihn die Wachmänner und Marktweiber in Wien kennen; er gibt nicht die Quelle an, aber er bestreitet es wenigstens nicht. Er hat auch erfahren, es sei Altenbergs Wunsch, »daß die Seele durch ihn an Terrain gewinne«; er nimmt Notiz davon. Er weiß auch auf den ersten Blick, den er selbst auf die erste Seite eines Altenbergschen Buches geworfen hat, daß dort Mandarinenschalen gekaut werden; er erkennt, daß es ein sonderbarer Heiliger sei. Dieser Sörgel schreibt einen einheitlichen Stil, nämlich den Stil von fünfhundert gleichwertigen Literaturreportern, deren Meinungen ihm zugänglich und geläufig wurden. Er ist objektiv. Er kann sich die letzten Jahrzehnte ganz ohne mich denken. Während ich so ungerecht bin, mir die letzten Jahrzehnte ohne den Sörgel nicht denken zu können. Er gehört hinein. Ich würde ihn um keinen Preis totschweigen. Daß ich ihn nenne, wird mir bei der Presse nicht schaden. Würde der Sörgel, dem man Uninformiertheit nicht nachsagen kann, meiner Tätigkeit nur mit einer Silbe gedenken, würde er auch nur mit einem Achselzucken zu verstehen geben, daß er um sie weiß, es hätte dem Weihnachtsgeschäft, das mit seiner Literaturgeschichte gemacht wurde, geschadet und wäre bis zur Ostermesse nicht von Vorteil. So muß sich Sörgel damit begnügen, von mir seine Meinung über Herrn Harden zu beziehen. Wenig genug und auch das in plumpster Fasson. »Eine rätselhafte Natur!« schreibt Sörgel zunächst hin. Mehr wußte er nicht. Da kam ich und löste das Rätsel in nichts auf. Noch nannte Sörgel den Mann einen »Meister der Antithese«, aber er wurde durch die Lektüre meiner Aufsätze unterbrochen, in denen an einem von Gesundheit strotzenden Stil der Bandwurm festgestellt erschien. Sörgel, selbst ein Meister der Antithese, verband nun die höchste Anerkennung, die einer Sprache zuteil werden kann, mit einem Tadel, der die Sprache zur lästigen Rede herabsetzt. Er ist eben objektiv. Natürlich fällt es mir nicht ernstlich ein, die Meinungen, die man mir so jahraus jahrein abschöpft, zu reklamieren. Nicht daß die Leute, deren Lippen noch vom Trünke feucht sind, die Quelle nicht nennen, aber daß sie deren Existenz leugnen möchten, vergiftet die Quelle. Solch ein Sörgel hat immer Recht. (Ich kann beeiden, daß an dieser Stelle der Setzer »Tölpel« gesetzt hat, und ich habe den Druckfehler »Sörgel« daraus gemacht.) Er ist objektiv und konsequent. Denn das Benehmen der Leute mir gegenüber, der ihnen nichts getan hat, ist immer die Antwort darauf, daß ich ihnen etwas tun werde. Herr Harden ist im Buche des Sörgel mit der Feder in der Hand photographiert — aha ein Schriftsteller —, von mir ist nur die Feder übernommen und vom Sörgel gar nur die Hand.

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Man muß ihr für drei Zitate dankbar sein. Zwei davon bringt Sörgel mit ernster Miene. »›Wir sind die Dichter des Niedergangs, des Abends, des Versinkens ...‹ sagte Verlaine in Paris zu Rudolph Lothar.« Und tief erschüttert über diese ganze Richtung setzt Sörgel schlicht hinzu: »Dichter des Versinkens, Dichter der Décadence!« Im Tone von »Tief gesunken!« Oder wie wenn der Vater in Zwickau dem Sohne vorstellt, was aus ihm noch werden kann. Wenn aber der Rudolph Lothar, zu dem Gottlob viele Leute etwas gesagt haben, nicht Verlaine belästigt und es in einem Blatt des Abends veröffentlicht hätte, wir wären um die ganze Perspektive gekommen. Dagegen ist es dem Tatsachensinn des Autors gelungen, ein Dokument zu entdecken, dessen Komik er zwar nicht versteht, dessen Abdruck aber verdienstlich ist. Es zeigt, aus welchen Hohlräumen anno 87 in Berlin der Vorsatz einer modernen Entwicklung entsprungen ist, wie sinnlos das ganze Geschwätz über Richtungen in der Literatur und wie unerhört etwa die Zumutung ist, die Existenz eines Gerhart Hauptmann auf die damaligen Vereinsbeschlüsse zurückzuführen. Herr Sörgel bringt »zwei Seiten aus dem Protokollheft des Vereins ›Durch‹, Sitzung vom 22. April 1887« in Faksimile. Der verstorbene Leo Berg — der intellektuell gewiß über dem Niveau der Debatte stand — hatte einen Vortrag »über die Begriffe Naturalismus und Idealismus« gehalten:

... Aus der Debatte, welche zahlreiche willkürliche und dem Sprachgebrauch entgegengesetzte Definitionen hervorbrachte, rangen sich schließlich etwa folgende Anschauungen empor, die von Wille, Lenz, Türk und wesentlich auch Münzer vertreten wurden:

1) Idealismus ist eine Richtung der künstlerischen Phantasie, welche die Natur nicht, wie sie ist, darstellt, sondern wie sie irgend einem Ideal gemäß sein sollte; (Anstandsideale der alten Griechen, des höfischen Rittertums, des modernen Salons).

2) Naturalismus ist die entgegengesetzte Geschmacksrichtung, welche die Natur darstellen will, wie sie ist, dabei aber in tendenziöse Färbung verfällt und mit Vorliebe das auswählt, was nicht so ist, wie es sein sollte, also das ästhetisch und moralisch Beleidigende.

3) Realismus ist diejenige Geschmacksrichtung, welche die Natur darstellen will, wie sie ist, und dabei nicht in Übertreibung verfällt. Der Realist weiß, daß die Wahrheit allein frei macht; sein Ideal ist daher Wahrhaftigkeit in der Darstellung. Durch die objektive Betrachtung der gesellschaftlichen Verhältnisse wird ferner der moderne Realist in eine Gemütsverfassung geraten, welche ihn über die Stoffe seiner Darstellung eine eigentümliche Beleuchtung ausgießen läßt (Gerechtigkeitsgefühl und Erbarmen). Der Realismus ist also ideal, aber nicht idealistisch; er stellt ideal dar, aber nicht Ideale.

Bruno Wille.

Wenn der Referent einer Berufungsverhandlung über die Weltschöpfung den Standpunkt Gottes zu erläutern hätte, er könnte es auch nicht übersichtlicher tun. Man machte sich anno 87 über die Kunst Gedanken. Aber es waren weder die bis dahin schon gedachten noch die eigenen. Dagegen spürt auch ein Sörgel den Humor dessen, was ungefähr um jene Zeit über Herrn Dörmann ernsthaft soll geschrieben worden sein:

Die Wollenskraft, im Durst nach Sensationen zerspellt, hat eine Mischung mit dem potenzierten Kohäsionsbedürfnis eingegangen zu raffinierter Geschlechtlichkeit .... Die sensationale Verdampfung der lebendigen Schwingungseindrücke auf dem Schwingungsskelett entspricht deutlich der Langsamkeit der psychophysischen Tätigkeit.

Vielleicht hat indes Herr Sörgel, der so viel Ernstes nicht humoristisch nimmt, hier eine Parodie ernst genommen. Jedenfalls könnte — in Lob oder Tadel — auch nicht annähernd Ähnliches heute über das Libretto des »Walzertraums« gesagt werden. Woraus man ersehen mag, daß sich die Zeiten ändern und wir mit ihnen, und nur die Literarhistoriker nicht.

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»Der Dichter muß fähig sein, mit leicht hingaukelnder Phantasie ...«

verlangt der Professor Oskar Walzel. Aber das ist nur die übliche Verwechslung der Dichtkunst mit der Literaturgeschichte.

»Da ist ebensoviel ungewollte Naivität wie frische Keckheit der Erfindung.«

Nie beim Dichter, immer bei der Literaturgeschichte!

»Frei schaltet die Phantasie mit den widerspruchsvollen Stücken der Überlieferung.«

Doch nicht bei einem Dichter, sondern bei der Literaturgeschichte!

»Vom schweren rotgoldenen Haar und der weißen hohen Stirn bis hinab zu den Füßen, die zart gegliedert waren wie ihre Hände, steht die Göttin in jeder ihrer Bewegungen scharf umrissen vor dem Leser.«

Muß ein sauberer Kitsch sein, diese Novelle, wie geschaffen für die Literaturgeschichte.

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Aus einem Aufsatz des Herrn Professors August Sauer über einen ganzen Viehwagen von Literaturgeschichten:

... Die Urteile im einzelnen sind mitunter ungerecht, so wenn Brentano .... jede künstlerische Zucht abgesprochen, dagegen Jean Paul zum siebenten Klassiker emporgeschraubt wird.

... Von Fritz Stavenhagen, Charlotte Niese, Otto Ernst.. Theodor Suse.. Marie Hirsch u.a. werden sehr anschauliche Charakterbilder entworfen.

... Neben dem Herausgeber begegnen uns in Stefan Milow, Marie Eugenie delle Grazie und Otto Hauser, die jenen Gegenden entstammen, Namen von gutem Klang.

... Die höchst subjektiven barocken Aphorismen Baudelaires werden dadurch kaum genießbarer.

... Unsere Schule kann nur gewinnen, wenn die Schüler nicht bloß mit den Meistern der Vergangenheit, sondern auch mit den großen Geistern der Gegenwart vertraut gemacht werden und ihr von den dazu berufenen Lehrern ein vorläufiger Standpunkt zu den brennenden Fragen unserer Zeit gegeben wird.

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Dem verstorbenen Schweizer Dichter J.V. Widmann sind in Wien zwei dicke publizistische Tränen nachgeweint worden. Den Herren Max Kalbeck und Anton Bettelheim war er gestorben. Sie veröffentlichen Briefe und Erinnerungen und ihnen schließt sich Necker an, indem er schreibt:

Die Freunde des liebenswürdigen Dichters der ›Maikäferkomödie‹ konnten sein Andenken nach seinem unerwartet schnellen Tode am 7. November v. J. nicht besser als durch die Veröffentlichung einiger seiner Privatbriefe ehren ... Man darf voraussagen, daß Widmanns Briefe, einmal gesammelt, sein schönstes Buch bilden werden. Wenn ich nun auch die zwei einzigen Briefe mitteile, die ich von Widmann besitze, so glaube ich, daß sich dies durch den Inhalt selbst rechtfertigen wird.

Auch ich schließe mich an und glaube, daß in der Brief Sammlung ein Schreiben nicht wird fehlen dürfen, dessen Publikation sich gleichfalls schon jetzt durch den Inhalt selbst rechtfertigt. Es ist nicht an mich gerichtet, kann deshalb umso bequemer vom Neuen Wiener Tagblatt abgedruckt werden. Es wird aber vor allem die Wiener Korrespondenten Widmanns selbst interessieren, und da nur sie die Vorgeschichte dieses Schreibens kennen dürften, so möchte ich die Herren, die um das Andenken des Schweizer Dichters bemüht sind, um Aufklärung über die folgende Angelegenheit bitten. Widmann, der schon darum ein Dichter war, weil er die Gabe hatte, sich im Bekenntnis seiner Irrtümer zu verjüngen, und der Otto Weininger in vier Essays für ein Feuilleton Abbitte geleistet hat, hatte in seinem ›Berner Bund‹ vom 5. Februar 1911 einen Aufsatz über »Heine und die Folgen« veröffentlicht. Diese in Nr. 317/318 der Fackel zitierte Besprechung enthielt viele Sätze, die Anerkennung bezeigten und fast etwas wie die schamvolle Dankbarkeit des journalistisch gebundenen Künstlers, welcher einem begegnet war, der um Freiheit und Bedingtheit weiß. Merkwürdig widersprachen solchen Zugeständnissen abfällige Wendungen über mein literarisches Vorleben und die offenbare Desorientiertheit, die freudig erstaunt annahm: daß hier, wie’s häufig vorkomme, ein ehemaliger Bandit sich als Polizist hervorragend bewähre, daß in »Heine und die Folgen« einer, der selbst das Handwerk betrieben und »vielen trefflichen Männern Österreichs« Unrecht getan habe, nun auf einmal sich zum Richter der üblen Zunft mache, und daß »der als satirischer Denker und schlagfertiger Stilist immer mehr zur Geltung gelangende österreichische Schriftsteller Karl Kraus sich in ehrlichen Stunden — oder wenigstens Minuten — gewiß selbst eingestehen wird, daß auch er als Redakteur u.s.w.«. »Man mag also über Kraus denken, wie man will und kann«, schloß Widmann, »diese seine Broschüre ist eine Leistung u.s.w.«. Ich erwiderte:

Man mag über Kraus denken, wie man will und kann — wenn man denken könnte, würde man schon anders wollen —, das eine muß er sagen: Herr J.V. Widmann hat hier ein rechtschaffenes Bekenntnis abgelegt, das — ein gutes Pendant zu der letzthin zitierten Berliner Meinung — ihm die Ungunst der Feuilletonbuben zuziehen wird. Aber es würde ihm wahrlich nicht gelingen, nachzuweisen, daß ich vom Banditen zum Polizisten avanciert bin und in Erkenntnis meiner »journalistischen Sünden« mich plötzlich und zur allgemeinen Überraschung als Bekämpfer des Journalismus zu etablieren begonnen habe. Ich kann ruhig sagen, daß ich noch keine einzige »ehrliche Stunde« gehabt habe, in der ich mir etwas eingestehen mußte, z.B. ich sei »in den Mitteln sensationeller Tagesschriftstellerei bisher so gar nicht wählerisch« gewesen. Ich ahne nicht, mit wem Herr Widmann mich verwechselt, und ich glaube ernstlich, daß er erst durch den verlegerischen Begleitzettel auf mich aufmerksam geworden ist. Den trefflichen Österreicher nenne er mir, dem ich Unrecht tat. Was ich zu bereuen habe, sind Überschätzungen. Den »schadenfrohen, gassenbubenhaften Wortwitz« Heines weise er mir nach. Einen einzigen Witz, der nicht ein Blutstropfen wäre! Als ob sich Witz gegen Heine wenden könnte, wenn er Witz von seinem Witze wäre! Als ob das Vergnügen, das die Wiener Kaffeehaussippe an ihm hat, ein Beweis wäre für die Gemeinheit seiner Herkunft. Ich glaube, mit dem Satz: »Man mag über Kraus denken, wie man will« muß heute jede Anerkennung beginnen, die die Würde mir spendet. So viel Seiten dreihundertsechzehn Nummern der Fackel haben, so oft habe ich den Satz schon gehört, und immer war eine andere Leistung von dem weiten Gebiet ausgenommen, worin man gegen mich sein durfte. Je nach den Beziehungen, Gewohnheiten und Vorurteilen der vorsichtigen, einschränkenden und zugebenden Herren. Wenn ich diese Dennochs summierte, und nicht schon größenwahnsinnig wäre, ich würde es unfehlbar werden.

Als ich nun kürzlich in Innsbruck eine Vorlesung hielt, war auch Carl Dallago aus Riva anwesend. Der machte mir eine Postkarte zum Geschenk. Und erzählte deren Vorgeschichte. Ihn hatte — es gibt unter zehntausend Schreibern, wenn’s hoch kommt, einen, aber der eine findet sich dann: der einen Glauben durchhält, und der bereit ist, sich Feinde zu machen, um einem Andern Freunde zu werben: — ihn also hatte die Meinung Widmanns und hatte meine Antwort verdrossen. Er schätzte beide, glaubte aber nur den einen aufklären zu müssen. Auf ein ausführliches Schreiben erhielt er nach längerer Zeit erst — wenige Monate vor dem Tode Widmanns — die Antwort:

Bern, 11. Juli 1911

Sehr geehrter und lieber Herr!

Mein Schweigen auf Ihren Kraus-Brief hatte keinen andern Grund, als daß ich, mit Anwandlungen körperlicher Schwäche fortwährend kämpfend und doch täglich meine anstrengende Berufsarbeit erfüllend, zu einer Alles erklärenden ausführlichen Antwort nicht Zeit und Kraft fand. Meine 70 Jahre machen sich halt geltend. Nur das Eine will ich anführen, daß ich über Kraus von Wien aus einseitig orientiert war. In seinem Kampf gegen Harden und Konsorten stehe ich ganz auf seiner Seite.

— — — Mit freundlichem Gruß und Dank für die herzlichen Worte Ihres Briefes vom 9. Juli

Ihr — leider — alter

J.V. Widmann

Und nun soll sich der freiwillig melden, der’s getan hat. Ich fixiere scharf den Kalbeck und auch den Bettelheim. Er soll sich melden — sonst bleibt mir die ganze Klasse hier!

Vgl.: Die Fackel, Nr. 341/342, XIII. Jahr
Wien, 27. Januar 1912.