Zum Hauptinhalt springen

Der Freiherr

November 1910

Nicht von der Parteien Gunst und Haß verwirrt, sondern im Gegenteil, weil er jeder einzelnen sich anzubiedern sucht, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte. Dieses unaufhörliche Schwanken ist die Lage, in der man unter allen Umständen sicher sein kann, ihn anzutreffen. Es gibt keine Öffnung österreichischer Gunst, und wäre sie noch so unwegsam oder wäre sie noch so ausgefahren, an der es den Freiherrn von Berger nicht gelockt hätte seine Gewandtheit zu erproben, und durch die er nicht getrachtet hätte, eine lohnende Aussicht zu gewinnen. Bei dem kolossalen Andrang, der in Österreich an solchen Stellen herrscht, ist es kein Wunder, daß selbst ein so geschickter Mann wie der Freiherr von Berger oft Pech gehabt oder sich dadurch, daß er die Gelegenheit besetzt hielt, wenn gerade ein anderer hineinwollte, die erbittertsten Feinde gemacht hat. Ich habe nicht zu ihnen gehört; denn ich bin ehrgeizlos, der Baron Berger kann mir zwischen Leo-Gesellschaft und Concordia keine Position wegnehmen, und von der Zeit, da er, ein Träumer, im Ischler Walde so für sich hinging, um nichts zu suchen und zufällig die Frau Schratt zu treffen, bis zur endlichen Berufung ins Burgtheater, habe ich ihn um keinen sozialen Vorsprung beneidet. Man weiß im Gegenteil, daß ich für den Baron Berger etwas übrig hatte, daß ich viel dazu beigetragen habe, seinen Erfolgen das Air des geistigen Verdienstes zu schaffen, und daß ich gutwillig den Verdacht übernahm, es sei diesem flinken Einseifer, dem zum Gurgelabschneider die Konsequenz fehlt, immerhin gelungen, zugleich der Neuen Freien Presse und der Fackel um den Bart zu gehen. Und wiewohl ich jetzt wieder den Verdacht auf mich nehme, daß irgendetwas vorgefallen sein müsse, weil eben für die Kretins immer etwas vorgefallen sein muß, wenn ein Mann mit einem Weib fertig wird, so stehe ich nicht an, dem Freiherrn von Berger öffentlich und auch für den Fall, daß er sich noch in einer Täuschung darüber befinden sollte, meine Gunst zu entziehen. Ich kann mich einer Sympathie, zu der er mir einmal Grund bot, nicht schämen, ich muß es ihm überlassen, sich dessen zu schämen, daß er mir heute keinen Grund mehr zu ihr bietet. Ich kann auch nicht leugnen, daß ich ihn für einen vielfältig begabten Mann hielt, dessen Unfähigkeit, seine Gaben zusammenzuhalten, sich mir immer wieder hinter einer reizvollen Plaudergabe verbarg. Ich nahm mir nicht die Mühe, die Taten zu vermissen, die er nicht tun konnte, oder gar jene zu erraten, deren er fähig war. Denn in die Betrachtung seines wogenden Busens versunken, aus dem Epigramme gegen Hochgestellte und Witzworte über Preßbuben hervorkamen, während sein Auge leuchtend auf dem dankbaren Empfänger ruhte, konnte man nur bedauern, daß solchem peripatetischen Plauderer die Gelegenheit gesperrt sei, und mußte wünschen, daß ihm endlich die Burgtheaterdirektion mit dem Recht verliehen werde, im Mittelgang des Parketts herumzugehen und mit seiner Begabung und Statur die Zwischenakte auszufüllen. Ein paar Aufführungen in Hamburg — nicht seine Aufführung, als er von Hamburg ging — schafften mir auch den Eindruck eines ungewöhnlichen Regietalents und ein paar Federzüge in Büchern und Aufsätzen den Glauben an seine novellistische Begabung. Einer größern Schuld habe ich mich nicht zu zeihen, und daß ich einen Mann, der vielleicht sogar aus mehr als zwei halben Männern besteht, nicht überschätzt habe, liegt auf der Hand. Er könnte mit seinen häufigen Talenten wirklich eine Persönlichkeit bedienen, aber der Jammer ist, daß diese Persönlichkeit nicht in ihm ist, so daß er oft den Eindruck eines Menschen macht, der seinen Körper abgelegt hat, ehe er mit den Kleidern ins Wasser ging. Dieser Mangel an Persönlichkeit aber tritt mit den Jahren so sehr in Erscheinung, daß nach dem Chok des Erfolges, einen zwanzigjährigen Traum erfüllt zu sehen, überhaupt nichts anderes übrig bleibt als der Mangel an Persönlichkeit. Der Freiherr v. Berger hat bewiesen, daß er für das Maß an Unehrlichkeit, das er sich aufgebürdet hat, nicht mehr tragfähig ist. Er ist bei weitem nicht konsequent genug, um einem die Untreue zu halten, und den Gesinnungswechsel, den er bei flagranter Gelegenheit ausgestellt hat, zu prolongieren. Der Wind, der von der andern Seite weht, wirft ihn um, wenn er seinen Mantel nach ihm hängt, und nichts bleibt als das weibische Vergnügen, ein kleines System von Rankünen, die einander wie die Wanderer in der hohlen Gasse kreuzen — des Weges Enge wehret den Verfolgern —, als l’art pour l’art auszuüben. Nur eine Geistesgegenwart, die in der Abwesenheit des Charakters begründet ist, konnte ihn auf die Idee bringen, Schiller für den Klerikalismus zu reklamieren, und nur die unerwartete Rückkehr des Charakters im Moment der Geistesabwesenheit konnte ihn veranlassen, am Grabe des Schauspielers Kainz die Dringlichkeit der Leichenverbrennung zu betonen. Dieses perpetuum mobile zwischen schwarz und gelb, das jetzt an einen Prälaten anschlägt und jetzt an einen Reporter, immer der Rückkehr zur andern Hoffnung gewärtig, ist schließlich eine so unwürdige Tatsache unseres öffentlichen Lebens geworden, daß selbst eine Hoftheaterbehörde des Mannes überdrüssig werden könnte, der sich heute vor ihr mit der Verachtung jüdischer Schmöcke brüstet und morgen den jüdischen Schmöcken sie gebunden überliefert. Um es mit einem Wort zu sagen, so scheint mir die Vereinigung der Würde eines Burgtheaterdirektors (wofern man heute noch von einer solchen sprechen kann) mit der Schmach eines fix besoldeten Mitarbeiters der Neuen Freien Presse (von der man heute gewiß sprechen kann) unerträglich, und der Freiherr v. Berger wird sich nicht wundern, daß ich ihn, nach den Jahren, da ich die literarische Leistung des verbannten Österreichers um ihrer selbst willen gewürdigt habe, mit äußerstem Mißtrauen in zwei Stellungen wirken sehe, deren Kuppelung eine absurde Gefahr für das geistige Leben dieser Stadt bedeutet (wofern überhaupt noch ein Hund an das geistige Leben dieser Stadt riecht). Der Freiherr v. Berger ist in mein Ressort gefallen. Nicht als Theaterleiter; denn ich befasse mich nicht berufsmäßig mit dem Niedergang des Burgtheaters. Ich überzeuge mich von ihm höchstens einmal in zwei Jahren, und ich habe mit Wehmut die welken Blätter betrachtet, die Herr v. Berger zur Totenklage der Königinnen in »Richard III.« von den Soffitten fallen ließ. Dieser Erneuerer, dachte ich, ist ein Restaurateur, der weniger auf das gute Fleisch sieht, als auf die schlechte Garnierung, und ich hatte wieder für zwei Jahre genug. Aber die Art, wie sich der Burgtheaterdirektor in die geistige Szene setzt und wie er die doppelten Spiele aufführt, das interessiert mich. Und wenn ihm meine Kritik zum Erfolge nützen sollte, so wäre das zwar bedauerlich, aber ich kann mindestens so wenig heucheln wie der Freiherr von Berger im Falle Harden, und man wird mir nicht zumuten, daß ich, um ihm zu schaden, sein Lob singe. Wie lange sich ein Übel erhält, ist gleichgültig; wichtiger ist, davon zu sprechen, weil man so, im Allgemeinen, über die Übel aufklärend wirkt und irgendeinmal neue verhindert. Herr v. Berger sehnt sich darnach, von mir angegriffen zu werden; ich tue es trotzdem. Es bedarf keiner Provokation; ich seh’ schon selbst, was los ist. Ihm genügt es aber nicht, bei der Neuen Freien Presse sicher zu sitzen, er hat den Drang, Fleißaufgaben zu leisten, und wie er nach der Bekehrung Schillers zum Katholizismus hundert Juden umarmt hat, bis Herr Benedikt ihm auf die Schulter klopfte und sagte: »Lassen Sie’s gut sein, Berger, es ist genug für heut!«, so will er jetzt den Nachweis erbringen, daß er keine Gemeinschaft mit mir hat. Irgend ein Schurke muß ihn bei der Neuen Freien Presse angeschwärzt haben. Denn das Obersthofmeisteramt besteht auf solchem Schein gewiß nicht. Im Gegenteil, ich kann Herrn v. Berger sogar eine schlaflose Nacht mit der Mitteilung machen, daß man in gewissen Kreisen — ich sage nichts Näheres, ich zwinkere, ich zucke die Achseln — die Fackel, wenn auch nicht versteht, so doch ernst nimmt. Dort könnte ich bei einigem guten Willen ihn kompromittieren. Aber ihm bei der Neuen Freien Presse zu schaden, liegt mir so wenig im Sinn, daß ich sogar alles tun werde, ihm dort zu nützen und ihm dazu zu verhelfen, auch noch die paar Stunden, die ihm jetzt die Leitung des Burgtheaters wegnimmt, der journalistischen Tätigkeit widmen zu können. Er wird natürlich sagen, ich tue das, weil ich kein Stück geschrieben habe und dieses vom Burgtheater nicht angenommen wurde. Oder er wird sagen, daß irgend eine Gemeinheit, die das Burgtheater an einem mir persönlich bekannten Autor begeht, mich erbittert hat. Auch damit täte er Unrecht. Die Zeiten, in denen mich das typische Schicksal der der Theaterranküne ausgelieferten Literatur interessiert hat, sind vorbei, und ich würde dem Herrn v. Berger nicht raten, irgend ein verletztes Privatinteresse mit meiner gesunden Abneigung in Konnex zu bringen. Ich würde ihm nicht raten, die Motive meines Angriffs schäbig zu machen — sonst hätte er es mit mir zu tun! Wenn dem Herrn v. Berger etwas an meiner Aversion gelegen ist, so soll er sie auch für ehrlich halten. Und wie ehrlich sie ist, das muß er gespürt haben, als er die Feder ansetzte, um Ludwig Speidel zurück in den Journalismus und Herrn Maximilian Harden in die Ewigkeit zu bugsieren. Wenn er es nicht darauf abgesehen hätte, meinen Zorn zu verdienen, er müßte doch gespürt haben, wie er entstand, wie er wuchs, wie mir die Finger zitterten, wie die Hand sich erhob, um einem unehrlichen Diener am Wort der Majorität, einem zwischen öffentlicher Meinung und heimlicher Streberei Beflissenen, dem Pfau der Presse, der sich vor Hennen spreizt, dem Freiherrn unter Freimädchen, dem endlichen Burgtheaterdirektor endlich auf den Mund zu schlagen. Er trolle sich und verstelle das Gesichtsfeld nicht. Dieser ewige Wirbel im Kinematographien, in den einer da gerät, über Stock und Stein hinter einer Hoffnung her, beim falschen Loch hinein, beim rechten hinaus — der Zustand paßt mir nicht! Dieser Drang, in eine Position zu kommen, und wäre es auch eine schiefe, ist fatal. Ich bin für solche Dinge umso empfindlicher, je länger ich sie nicht gespürt habe, und nehme sie dann als persönliche Beleidigung. In dem Augenblick, da Herr Alfred v. Berger Miene machte, Speidel, dessen Andenken man kaum aus den Klauen der Neuen Freien Presse gerissen hatte — die Herren Wittmann und Benedikt begleiteten ihn in die Unsterblichkeit —, der Kollegenschaft wieder einzuliefern; in dem Augenblick, da er — kurz nachdem ich die Folgekrankheiten des Heineismus beklagt hatte — die Geschmackigkeit des Wiener Feuilletongeistes pries, da mußte er wissen, daß es zwischen uns keine Verbindung mehr gab. »Oberhalb oder im Norden des Striches tobt das kalte stürmgepeitschte Meer der Politik und des wirklichen Lebens, im Süden erstreckt sich die grüne, sonnige Küste des Feuilletons, der Strich selbst wandert auf und ab wie eine Flutmarke; höchst selten, an besonders kritischen Tagen, verschwindet er sogar, wie bei Springflut, unter den hereinbrausenden Wogen des Leitartikels. Ober dem Strich ist Krieg, da liefert der Geist im Dienste politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ideen und Leidenschaften seine Schlachten. Unter dem Strich ist Friede, da legen die Gedanken ihre Waffenrüstung ab und entladen ihre nackte Kraft nicht im Zwange drängender Not, sondern in freiem Spiel ...« Nein, der Urheber dieser schönen Bildlichkeit hat nicht erwartet, von mir noch gegrüßt zu werden, wenn ich ihm zufällig einmal ober, unter oder auf dem Strich begegne. Der Mann, der einem Speidel nichts besseres nachzusagen wußte, als die »feinfühligen journalistischen Instinkte«, hat nicht gehofft, daß er sich bei mir damit eines seiner Bildel einlegt. Nicht, weil er weiß, daß ich weiß, wie er über diese Dinge denkt. Das weiß ich nämlich gar nicht. Ich verlasse mich nicht einmal auf die Verachtung der journalistischen Instinkte, die der Baron Berger mir gegenüber hundertmal betont hat. Die Lust zu fabulieren ist groß und die Neigung, so zu fabulieren, wie es der andere hören will, größer. Aber das Stoffliche der Gesinnung, die sich vor Herrn Benedikt auftut, paßt mir nicht. Ich räuchere nicht durch zwölf Jahre ein Räubernest aus, damit ein Mann, der mir dazu Beifall geklatscht hat, sich’s drin wohl sein lasse. Wenn den Mitarbeiter der Neuen Freien Presse der Verkehr mit mir nicht kompromittiert hat, ich mußte ihm die Mitarbeit nicht übelnehmen. Aber die Glorifizierung des Schlimmsten, was mir die Journaille an der Kultur zu verbrechen scheint, des Feuilletongeistes, der die Schurkerei versüßt, nehme ich nicht hin. Der Freiherr v. Berger weiß das und er hat mir mit dankenswertem Entgegenkommen den Verzicht auf meine Achtung erleichtert. Er kann nämlich nicht lügen. Er muß Herrn Maximilian Harden versichern, daß der Wert seiner Artikelsammlung »Köpfe« mit den Jahrzehnten, und wenn sein Gefühl nicht trügt, mit den Jahrhunderten wachsen wird. Sein Gefühl trügt; wie jeder Schein, wie alles, was Herr v. Berger in sich hat, und nur die erweisliche Wahrheit siegt, daß das Buch des Herrn Harden die Leistung des Buchbinders ist, der der Welt beweist, wie wesenlos die Gedanken zerflattern, die ein geschminkter Archivar für die Woche erschwitzt hat. Herr v. Berger kann nicht anders, er muß. Er stand stundenlang auf dem Korridor des Leipziger Reichsgerichts, um nicht für Moltke und nicht gegen Harden zu zeugen, aber um für seine Vermittlerrolle zwischen Aristokratie und Journaille zu zeugen, die er sich in seinem unerforschlichen Drang nach diplomatischer Betätigung zugelegt hatte. Der wartende Zeuge, der vor dem Reichsgericht stand, als ob dieses eine Burgtheaterdirektion zu vergeben hätte, machte nicht den erfreulichsten Eindruck, und Zeugen dieses Wartens wollen beobachtet haben, daß Graf Moltke damals ein Gesicht machte, als empfände er, wie vorsichtig man mit den Freiherren sein muß. Adel, der in der Krachzeit des österreichischen Liberalismus erworben ist und an der Neuen Freien Presse mitarbeitet, läßt Tintenflecke. Der arme Graf Moltke ist wahrscheinlich ein so schlechter Menschenkenner wie ich. Aber ich wenigstens wußte schon damals, das Feuilleton des Aristokraten Berger über den Bürger Harden sei unvermeidlich. Er wird das »wunderbare Phänomen seines schier unerschöpflich scheinenden Wissens, das er immer bei der Hand hat, wenn er es gerade braucht«, uns erklären. Er wird leugnen, daß es Zettelkästen gibt, und man wird darum nicht wissen, woher die Hand das unerschöpflich scheinende Wissen nimmt. Sie nahm es kürzlich aus einer parodistischen Schmähschrift gegen Friedrich den Großen, und Herr Harden behauptete, einen Originalausspruch des »Fritzen« gefunden zu haben. Franz Mehring hat in der ›Neuen Zeit‹ unter dem Titel »Ein Fürst der Gecken« die tödliche Blamage des gebildetsten Deutschen enthüllt, und alle Zettelkästen zwischen Konstanz und Königsberg barsten vor Scham über das Malheur, das einem ihrer Kollegen passiert war. Ich müßte mich umbringen, wenn ich gewußt hätte, daß ein gewisser Bonneville 1766 ein Pamphlet »Matinées du roi de Prusse« verfaßt hat. Herr Harden bringt sich nicht um, wiewohl sich herausgestellt hat, daß er es nicht weiß. Daß er es nicht nur nicht weiß, sondern eine den Historikern bekannte Persiflage der Hohenzollern ernst genommen und die Worte, die Friedrich der Große zu seinem Neffen spricht (»Unser Haus hat, wie alle andern, seine Achilles, seine Ciceros, seine Nestors, seine Blödsinnigen ...«) als ungedrucktes Bekenntnis eines Vorfahren, der anders als Wilhelm II. vom Gottesgnadentum denke, veröffentlicht hat. Herr Harden war interpelliert worden, woher er das dieswöchentliche Zitat habe, und antwortete in einem zweiten Artikel, er sei, fern von Berlin, nur auf sein Gedächtnis angewiesen, das freilich auch fern von Berlin unglaublich leistungsfähig ist — folgte eine Serie von Namen und Zahlen —, aber er verdanke irgend jemand eine Abschrift dieser bis heute ungedruckten Worte. Herr v. Berger hat nie an den Zettelkasten geglaubt, der ja auch tatsächlich zeitweise in Unordnung zu sein scheint. Ich denke aber, daß dies nicht das Problem ist, welches uns hier zu beschäftigen hätte, sondern vielmehr ein anderes: ob Herr Harden außer dem Zettelkasten, den er nicht hat, noch etwas anderes hat. Herr v. Berger ist ganz entschieden der Ansicht. Der Zettelkasten, der immer zur Erklärung des Harden’schen Wissens herangezogen werde, sagt er, verhält sich zu Harden, wie Lord Bacon zu Shakespeare; die Verlegenheit, das Shakespeare-Wissen zu erklären, habe die Theorie erzeugt, Shakespeare sei im Geheimen Lord Bacon gewesen, »wobei Lord Bacon gewissermaßen die Rolle eines Zwillingsbruders des Harden’schen Zettelkastens spielt«. Das sind komplizierte Familienverhältnisse, aber ich möchte immerhin behaupten, daß Shakespeare außer seinem Wissen noch etwas vorgestellt hat, während bei Herrn Harden das Wissen die störende Hauptsache ist und außer ihr nichts da ist, was unser Herz erfreuen könnte. Auch möchte ich den Zettelkasten des Herrn Harden, wenn sich ihm überhaupt etwas an die Seite stellen läßt, lieber schon mit dem Brustkasten des Freiherrn v. Berger verglichen sehen, aus dem ebenfalls manches hervorkommt, wofür der Besitzer nicht verantwortlich ist. Wenn’s freilich auf mich ankommt, würde ich diesen unvergleichlichen Brustkorb wieder nur mit einem redenden Papierkorb vergleichen. Denn was hat da nicht alles Platz! So meint Herr v. Berger zum Beispiel, Harden sei ein Sprachkünstler. Nun, ich kann da nicht mitreden. Ich bin bloß Übersetzer und als solcher etwas voreingenommen. Aber an dem Übelbefinden von Tausenden, denen ich die Sprache des Herrn Harden zugänglich gemacht habe, merke ich, daß da etwas nicht stimmen dürfte. Herr v. Berger hebt ferner auch rühmend hervor, daß Herr Harden, der übrigens einer der fleißigsten Arbeiter sei, sich in die Persönlichkeiten, die er schildert, »hineinbohrt, bis er endlich die Empfindung, wie es schmeckt, dieses Ich zu sein, einen Augenblick auf der eigenen Zunge spürt«. Da kann ich auch nicht mitreden, da ist wieder der Freiherr v. Berger kompetent. Auch er hat es oft gespürt, er konnte es umso leichter als er doppelzüngig ist, er hat Tag und Nacht gearbeitet, wie Herr Harden, er ist manchmal gar nicht aus den Kleidern der Leute herausgekommen. »Wenn ich«, schreibt er, »der Natur, als sie Harden schuf, einen guten Rat hätte geben können, so würde ich ihr gesagt haben: Gib diesem Drang nicht nur die Kraft des denkenden und fühlenden Ergründens und lebendigsten Schilderns, sondern die Allmacht des Gestaltens, oder gieß ihr wenigstens schauspielerisches Vollblut in die Adern!« Man kann von Glück sagen, daß der liebe Freiherr nicht dem lieben Gott geholfen hat; er hätte die Menschen am Ende nach seinem Ebenbilde geschaffen. Schlechte Freiherren gibt es genug. Schlechte Theaterdirektoren auch. Dagegen gibt es nicht viele gute Schauspieler. Die Herren Berger und Harden haben Ansätze. »Der schauspielerische Trieb muß sehr stark gewesen sein in dem jugendlichen Harden«, sagt jener und rühmt ihn als echten Patrioten. Darin, findet er, in der »leidenschaftlichen Liebe für das Vaterland« gleiche Harden keinem geringern als Dante. Diese »weißglühende Leidenschaft« nötigt Herrn v. Berger — der ja auch sein Vaterland liebt, aber doch nur, wenn es ihn zur Burgtheaterdirektion ruft — geradezu Ehrfurcht ab: »Hardens Patriotismus ist das Gefährliche in ihm, das zu scheuen ratsam ist«. Ich bin ganz derselben Meinung und habe schon in dem Aufsatz »Der Patriot« diesen Patriotismus als einen solchen dargestellt, dem man lieber ausweicht, wenn’s finster wird. Harden »nimmt, wie Goethes Alba, keine Raison an«; höchstens die des Herrn v. Holstein, die das Vaterland just dann in einen Krieg treiben will, wenn’s just am wenigsten dringend ist. Und wieder kommt, bei aller Echtheit des Patriotismus, »das starke schauspielerische Temperament« des Herrn Harden zu Ehren, das ihn zwingt, »die Rollen an sich zu reißen, die der Moment von ihm heischt, abwechselnd Prophet, Weiser, Narr, Warner, Ankläger, Richter und Nachrichter, denn tausend Seelen wohnen in ihm«. In Herrn v. Berger trotz größerer Brust erweislichermaßen nur zwei. Und die sind zu viel! Und nun möchte ich ihn zu seiner Pflicht rufen. Denn so wahr es ist, daß er eher noch das Burgtheater vor dem Tode seines Weltruhms retten als daß er meinen Harden für Deutschland lebendig machen wird, so dringend nötig ist es, ihn bei der Stange zu halten. Wenn er sich pflichtgemäß für den schauspielerischen Nachwuchs zu interessieren hat, unterlasse er es, auf den literarischen Schmieren Umschau zu halten. Er kümmere sich darum, wo er den Nachfolger für Kainz, wo er den interessanten Schauspieler findet, dem zuliebe ein Mensch in Wien noch ein Burgtheaterbillett kauft, und gebe den Versuch auf, die schauspielerischen Keime bei Herrn Harden, der nun schon einmal den Beruf verfehlt hat, zu entdecken. Wir wollen einen Burgtheaterdirektor und nicht einen Rezensenten, der ehemalige Provinzkomödianten und gegenwärtige politische Gaukler als Stars feiert. Herr v. Berger hat in einer lächerlichen Notiz erklärt, daß das Burgtheater auch nach dem Tode Kainz’ noch bestehen werde, wie es nach dem Tode Sonnenthals weitergelebt habe. Das mag wahr sein, die Mauern sind nicht eingestürzt, das Klosett auf der rechten Parkettseite ist noch immer sanitätswidrig und auf der Galerie ruft der Mann, der heute die Burgtheatertradition verkörpert, noch immer: »Frisch Wasser, Frornes, Lemrnad!« Wenn Herrn v. Berger ein Schauspieler stirbt, so sagt er, daß mit Rücksicht auf dessen Unersetzlichkeit kein Nachfolger engagiert werde, und daß das Publikum von den Persönlichkeiten entwöhnt und zur Würdigung des Ensembles erzogen werden müsse. Solcher Aufschrei der geplagten Mittelmäßigkeit, die keinen größeren Ehrgeiz kennt, als den Gymnasiasten die Lektüre der Klassiker zu ersparen, mag rührend sein; aber durch die Entschuldigung, daß er für den Tod nichts könne, wird Herr v. Berger der Verantwortung dafür, daß er das Leben nicht ruft, kaum entgehen. So wird sich die Sache schwerlich halten. Schon gar nicht, wenn sie immer wieder durch Feuilletons unterbrochen wird. Wenn der Freiherr bekennt, er habe Harden »genau studiert«, so ist es nur zu beklagen, daß er seine freie Zeit nicht besser angewandt hat: vielleicht hätten wir jetzt schon bessere Burgtheatervorstellungen. Und wenn er mit einer deprezierenden Gebärde nach meinem Schreibtisch ausruft, »er könne ihn nicht anders malen, als er ihn sieht«, so falle ich vom Sessel vor Entzücken ob solcher Ehrlichkeit. Denn ich kann noch weniger lügen, als der Freiherr v. Berger. Hardens »Sprachgewalt« flößt diesem graden Michel Bewunderung ein. Hardens »Leidenschaft« bittet er nicht mit ihrem »schwächlich, reizbaren Bruder, dem Affekt« zu verwechseln. Er lasse mir die Leidenschaft des Herrn Harden in Ruhe; sonst tut sie der Sprache Gewalt an und behauptet am Ende, der aus der Elbestadt mit Stank Geschiedene habe ihn, den im Machtreich Wohnenden, mit Klugschwatz kirren wollen!.. Kann solch dekrepite Leidenschaft noch einen schwächlich reizbaren Bruder haben, so reize er die Schwäche nicht. Sie könnte dem Freiherrn v. Berger Proben geben, daß er meinen Affekt wirklich nicht mit der Leidenschaft des Herrn Harden verwechseln wird! Ich würde ihm beweisen, wie zutreffend die Beschreibung ist, die er von jenen gibt, welche seinem Urteil über Herrn Harden — er ahnt es — widersprechen werden: psychologische Begabung sei für sie »die Sucht und die Geschicklichkeit, hinter der Fassade, welche eine öffentliche Persönlichkeit dem Publikum zukehrt, allerlei traurige Menschlichkeiten als die angebliche Wahrheit aufzuspüren«. Dieser vielfältige Mann ahnt, daß er durch die Verteidigung der Fassade des Herrn Harden seine eigenen Menschlichkeiten dem Auge des Psychologen entblößt hat. Ich bin aber gar nicht für Psychologie, ich bin bloß für Sauberkeit. Ich haue Fassaden ein und mache tabula rasa mit den traurigen Menschlichkeiten. Ich leiste Verzicht auf die Verehrung, deren man mich immer bis zu dem Moment versichern läßt, in dem man meiner Achtung verlustig gehen will, und ich beklage die Feigheit, die, nicht zufrieden damit, daß sie über mich nicht öffentlich reden darf, noch ein Übriges tut und mir in den Rücken fällt, um in alle Hohlheit, die ich entlarve, hineinzukriechen. Wie eine Konkursmasse der Gesinnung geht dieser stattliche Freiherr durch ein Leben, wo man Händedrücke austeilt, um sich Fußtritte zu ersparen. Er entziehe mir seinen Anblick. Wir sind miteinander quitt. Er hat sich einmal den Jux gemacht, in der Neuen Freien Presse einen »geistvollen Kritiker« zu zitieren, der das Wort »Dilettanten ohne Lampenfieber« geprägt habe. Er hat mir damit ein Opfer gebracht, das ihm die Journaille übelnehmen könnte. Ich habe mich revanchiert, und als ich in der ›Fackel‹ zum erstenmal das Wort »Journaille«, dessen Erfinder ich nicht bin, zitierte, dazu geschrieben: »Ein geistvoller Mann hat mir neulich, da wir über die Verwüstung des Staates durch die Preßmaffia klagten, diese für meine Zwecke wertvolle Bezeichnung empfohlen, die ich hiemit dankbar dem Sprachgebrauch überliefere«. Wir sind quitt.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 311/312, XII. Jahr
Wien, 23. November 1910.