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Der alte Tepp

April 1908

Der Abgeordnete Bielohlawek hat Tolstoi einen »alten Teppen« genannt. Das ist nicht zu entschuldigen. Denn der Abgeordnete Bielohlawek hat von Tolstoi keine Ahnung, zu solchem Urteil aber könnte einer nur auf Grund genauer Kenntnis des Tolstoischen Wirkens gelangen. Und auch dann wäre der Ausdruck unziemlich. Es geht nicht an, und widerspricht auch durchaus den parlamentarischen Sitten, dem Altersschwachsinn einer Persönlichkeit von europäischem Ruf so respektlos zu begegnen und eine die Kultur umfassende dementia mit einem so rüden Wort abzutun. Herr Bielohlawek kennt von Tolstoi wahrscheinlich nicht mehr als den einen Ausspruch, den Herr Pernerstorfer zitiert hat. Und gerade dieser Ausspruch ist bei weitem nicht das Unsinnigste, was Tolstoi in den letzten Jahrzehnten verkündet hat. Auch in der allgemeinen Fassung, und nicht bloß auf Rußland bezogen, hat die Sentenz, daß die Wohnung der anständigen Menschen das Gefängnis sei, eine gewisse Berechtigung. Man muß nur von der härenen Kittel- Ergebenheit, die im Besitz von Millionen nach einem Martyrium lechzt, ein wenig absehen, dann könnte Tolstois Wort immerhin die Wahrheit erschließen, daß weniger unanständige Menschen im Gefängnis sind, als auf freiem Fuß. Es war also mindestens leichtfertig, auf diesen einen Ausspruch ein Urteil zu gründen, zu dem gewiß nur ein gewiegter Kenner dessen, was uns der russische Heiland etwa seit der Kreutzersonate offenbart hat, berufen wäre. Herr Bielohlawek, der es sich sonst trotz allen liberalen Dünkelmännern zum Vorzug anrechnen darf, vom Mutterwitz statt von der Bildung seine Urteile zu beziehen, hat sich ausnahmsweise auf ein Gebiet begeben, auf dem nur den Eingeweihten eine Meinung zusteht. Die Schützer der Bildung durfte es empören, daß über einen Weltweisen, an dem man mit dem Hut in der Hand eine respektable Abschwächung der Gehirntätigkeit feststellen muß, ein vulgäres Kraftwort gebraucht wurde. Als vor ein paar Jahren Tolstoi seine Enthüllungen über Shakespeare erscheinen ließ, durch die es auch dem letzten Zweifler offenbar wurde, daß Shakespeare ein alter Tepp sei, hätte kein gebildeter Europäer es gewagt, die Ehrfurcht vor Tolstoi durch ein rohes Wort zu verletzen. Keiner hätte sich dazu hergegeben, einem schon an der Schwelle der Unsterblichkeit stehenden Alten, der der Welt noch das Evangelium von der Nichtigkeit Shakespeares und anderer irdischen Genies brachte, auf den Mund zu schlagen. Ich selbst habe damals den Verdacht unterdrückt, daß ein alter Tepp das Wort ergriffen habe, den das Urchristentum allem Erfassen fremder künstlerischer Welten wie auch längst der eigenen Künstlerschaft entrückt hat. Ich war so zurückhaltend, ihn bloß einen alten Schwätzer zu nennen. Aber ich bin mir jetzt dessen bewußt, wie frivol auch diese Wertung eines urchristlichen Schänders meines Shakespeare-Heiligtums war, und aus Furcht, eine Ungerechtigkeit zu begehen, würde ich mir’s heute dreimal überlegen, ehe ich ein Bekenntnis des Grafen Tolstoi ausschließlich von der pathologischen Seite nähme. Die Behauptung, daß er ein alter Tepp sei, ist nicht nur eine herzlose Ungebühr gegenüber einem Alten, nicht nur eine Dreistigkeit gegenüber einem Weltweisen, sie könnte auch eine Unbilligkeit gegenüber einem alten Weltweisen sein, von dem man ja doch nicht wissen kann und den noch keiner darauf untersucht hat, ob er nicht am Ende ein alter Mogler ist. Einer, der sich zu gern den »tribus magnis impostoribus« gesellen möchte, ohne an ihre Suggestivkraft heranzureichen. Man könnte schließlich auch aus der geistigen Verfassung derer, die eine Heilsbotschaft empfangen, auf den Ernst des Evangelisten schließen. Eine Welt, die zu nichts besserem geboren scheint als zum Betrogenwerden, harrt des Erlösers; und wer in den Ideenmischmasch dieser Zeit nur mit der Anweisung hineinfährt, Gras zu fressen und Shakespeare für einen Kretin zu halten, müßte wirklich schon ein ausgesuchtes Pech haben, um nicht als Heiliger verehrt zu werden. Wer aber der Armee seines Landes keine schöneren Siege wünscht als die Niederlagen, da dem Mutigen zwar die Welt, aber dem Feigen das Himmelreich gehört1, und wer sich dazu im Büßergewand unter tennisspielenden Enkeln photographieren läßt, der müßte schon ein abgefeimter Schwindler sein, wenn er nicht eine göttliche Mission zu vollenden hätte. Aber der Heiligenschein trügt nicht, ein mit allen Salben Geweihter stößt auf ein günstiges Vorurteil, und es ist ein wahres Glück, daß die Betriebsmittel dieser eitlen Zivilisation jede Bitte um ein Martyrium in ein paar Stunden um die Welt verbreiten können, so daß, wenn es einst vollbracht sein sollte, ein Golgatha von Telegraphenstangen dafür zeugen wird.

Jetzt frage ich aber: Ist die Möglichkeit, daß der alte Tolstoi in vollster geistiger Frische ein bißchen mogelt, ausreichend, ihm die Sympathien einer organisierten Betrügerbande, wie sie der Intellektualismus darstellt, zu gewinnen? Genügt es ihr wirklich schon, daß einer nicht glaubt, was er sagt? Kommt es denn nicht darauf an, was er sagt? Ist jede Tendenz, auch die feindlichste, dem Liberalismus wohlgefällig, wenn nur Aussicht besteht, daß sie unecht ist? Wenn Tolstoi insgeheim wirklich der unwiderruflich letzte Christ wäre, und er predigte das Zinsennehmen, man könnte die fanatische Parteinahme des Herrn Benedikt für ihn begreifen. Ob aber sein Urchristentum eine fixe Idee oder eine Pose ist, an welchen Punkten, frage ich, berührt es die Kreise der Neuen Freien Presse? Warum ereifern sich die Händler und Wechsler für Christi Sendung? Wenn Herr Benedikt an Tolstoi glaubt, so müßte er sich ausnahmsweise dreimal bekreuzigen, sobald nur der Name in seiner Gegenwart ausgesprochen wird. Revolutionär sind die Ideenrichtungen beider. Aber was hat das Zerknirschungsideal des russischen Knechts, der das Väterchen im Himmel anwinselt, mit der Herrschsucht des liberalen Geistes zu tun, der der Menschheit den Zinsfuß auf den Nacken setzt? Die Sympathie wäre noch verständlich, wenn unter den Entsagungsvorschriften Tolstois auch die strikte Anweisung zu finden wäre: Wenn Dir die rechte Tasche ausgeraubt wurde, so halte auch die linke hin! So geistlos kann die Bildung doch nicht sein, daß sie sich wirklich verpflichtet fühlte, in allen Fällen bloß die Retourkutsche der Unbildung abzugeben. Denn schließlich steht diese den Verkündungen des Grafen Tolstoi näher als jene, steht Bielohlawek dem Urchristentum näher als Benedikt. Den Anfeindungen, die die Wissenschaft im niederösterreichischen Landtag erfährt, klatscht Tolstoi Beifall. Daß man Bazillen zu Versuchszwecken züchtet, erscheint ihm ebenso unbegreiflich wie irgendeinem christlich-sozialen Agitator, den die Neue Freie Presse darob verhöhnt. Er hält’s mit den Dürrkräutlerinnen und verwirft die Wissenschaft, weil sie noch nie an nützliche Dinge gedacht hat, zum Beispiel, »wie Beil und Besenstiel am besten anzufertigen sind, wie eine gute Säge beschaffen sein muß, wie man gutes Brot backen kann, welche Mehlgattung sich dazu am besten eignet usw.« Ungefähr sagt das der Bielohlawek auch, nur mit ein bißchen andern Worten, und er tut beinahe so unrecht, Tolstoi einen alten Teppen zu nennen, wie der Benedikt, ihn in Schutz zu nehmen. Ich habe die unbestimmte Empfindung, daß Tolstoi in allen entscheidenden Fragen die Neue Freie Presse im Stich ließe; er hätte ihr höchstens als Nichtraucher sekundiert, aber sie schon als Impfgegner enttäuscht, denn es ist klar, daß das erste, was man bei einer ausbrechenden Epidemie zu veranlassen hat, die strenge Beachtung der Vorschrift ist, dem Übel nicht zu wehren. Wie kommt Sau bengel unter die Propheten? Der Liberalismus ist weitherzig, er tanzt um das goldene Kalb und pflügt mit dem fremden.

Wenn man — nach der Methode, die Herr Benedikt einmal empfahl — »einen Querschnitt durch Tolstoi machen könnte«, so würde man vielleicht weniger Christentum finden, als man erwarten durfte, aber doch noch immer genug, um die Sympathiekundgebungen des Liberalismus für einen faux pas zu halten. So selig die Armen im Geiste sein mögen, sie müßten die Lächerlichkeit dieses Bündnisses erkennen. Was in aller Welt — in jener, von der auch Tolstois Reich ist — hat der Fortschritt, der des Schwindelgeistes und der der Kultur, mit dem Urchristentum, dem gefühlten oder dem gepredigten, zu schaffen? Ein Ragout aus Mystik und Mystifikation könnte ja auch einem raffinierten Geschmack behagen, und es mag den Psychologen fesseln, daß einer zugleich ein Besitzender und ein Besessener sein kann. Alle Hochachtung vor einem tanzenden Derwisch, ha welche Lust Fakir zu sein, und selbst das Amok-Laufen ist eine schöne Beschäftigung. Aber unter allen die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Betätigungen scheint mir doch die Propaganda des Urchristentums — ein Amok-Laufen gegen den Sinn des Lebens — die allerbedenklichste, und so wahr es ist, daß die Kultur unseres Geistes von der Maschine verdrängt wird, so wahr ist es, daß der letzte Handlanger der sogenannten Zivilisation der Allgottheit näher steht als die Sorte von Fanatikern, die zuerst eine Panik der Geister erzeugen und dann als Notausgang die »Rückkehr zur Natur« offen lassen. Die Fegefeuerassekuranten, die die Kirche entsendet und die ohnehin oft zudringlicher sind, als es sich ziemt, erleichtern einem wenigstens die Lasten des Diesseits, indem sie sie in eine Versicherungsgebühr umwandeln. Aber die Tolstoische Lehre erhöht diese nicht nur, sondern läßt sie zugleich die Prämie bedeuten. Sie schlägt einem die Himmelstür vor der Nase zu, wer sein eigenes Weib ansieht, ihrer zu begehren, hat schon mit ihr die Ehe gebrochen, und es ist wahrhaft trostlos, daß man sich bereits bei Lebzeiten in den Höllenrachen stürzen soll, um der ewigen Seligkeit zu entgehen. Und welche Tantalusqualen, durch einen Altvaterbart, der uns das Dasein mit der Erinnerung an eine Likörmarke verschönert, zur Enthaltsamkeit gemahnt zu werden! Man hat ohnehin sein liebes Kreuz mit den Gottsuchern sowohl, wie mit jenen, die ihn schon gefunden haben; aber mit den Gottsuchern, die ihn leugnen, auszukommen ist verdammt schwer. Am besten, man sagt sich, daß sie achtzig Jahre alt sind, und daß wir, um mit Shakespeare, der ein alter Tepp war, zu sprechen, von ihren Jahren »nicht nur die Unvollkommenheiten längst eingewurzelter Gewohnheiten erwarten müssen, sondern außerdem noch den störrischen Eigensinn, den gebrechliches und reizbares Alter mit sich bringt«. Und daß sie »nicht hätten alt werden sollen, ehe sie klug geworden sind.«

Nur der Liberalismus ist anderer Meinung. Ihm scheint nichts natürlicher, als daß sich die Todeszuckungen der europäischen Kultur unter dem harmonischen Gliederzucken eines alten Quäkers vollziehen. Aber diese Anpassung an die Tolstoische Gedankenwelt ist mehr, als man dem Fortschritt zugetraut hätte. Nicht die Parteinahme, nur die urchristliche Opferfähigkeit, die sich in ihr ausdrückt, müßte den Großgrundbesitzer von Jasnaja Pol Jana zu Tränen rühren. Das hat er nicht erwartet. Zwar hätte er seit der Exkommunizierung, die immer eine Aufnahme in den Schoß der allein seligmachenden Presse bedeutet, darauf gefaßt sein können, und wenngleich er in Bann getan wurde, weil ihm die Kirche zu wenig christlich war, so wirkte das Ereignis doch so animierend, daß damals der liberale Kursbericht mit dem Ausruf begann: »Tolstoi hat sich angeklagt!« Aber jetzt hat es nur des Zufalls bedurft, daß ein Sozialdemokrat ein Tolstoisches Wort zitierte und ein Christlichsozialer infolgedessen von Tolstoi abfiel, um Herrn Moriz Benedikt zu einem unumwundenen Bekenntnis seiner nazarenischen Weltanschauung zu bestimmen. Der Sektierergeist der österreichischen Politik tut seine Wunder. Längst wird kein Soldat mehr im Kaukasus oder in Przemysl den Fahneneid verweigern, so wird man noch die sinnverwirrenden Folgen der urchristlichen Propaganda im Leitartikel der Neuen Freien Presse zu spüren bekommen. Wenn sich die Gracchen über Aufruhr beklagen, so ist das nicht grotesker, als wenn die Aufklärung die Tolstoische Weltanschauung lobt. Im österreichischen Parlament wird jetzt — dank dem Herrn Hlibowitzki, dessen Namen man sich zu merken versuchen wird — zwischen Zola unterschieden, der bloß der gesamten Kulturwelt bekannt sei, und Tolstoi, »dessen Werke nicht bloß von den auf der höchsten Kulturstufe Stehenden hoch gepriesen werden, sondern selbst in die Hütten jener Volksstämme Afrikas und Amerikas ihren Eingang bereits gefunden haben, denen erst seit Kurzem das Licht der Zivilisation zu erblicken beschieden wurde«. Was blieb demnach dem Präsidenten anderes übrig, als sein Bedauern über den Zwischenruf des Herrn Bielohlawek auszusprechen? Er hätte höchstens noch hinzufügen können, daß in den Hütten jener Volksstämme Afrikas und Amerikas die Tolstoische Weltansicht eines wahren Verständnisses noch sicherer sei als bei den auf der höchsten Kulturstufe Stehenden, und zwar trotz der Zivilisation, deren Licht sie übrigens erst vor Kurzem erblickt haben. Aber der Vergleich Tolstois mit Zola entbehrt nicht eines gewissen Hintergrunds. Zola hat sich in den Augen der liberalen Welt von dem Makel seines künstlerischen Wertes durch sein Eintreten für Dreyfus gereinigt, und die Bedeutung Tolstois als Romanschriftsteller müßte keine unbestrittene sein, der Schimpf, den ihm Herr Bielohlawek angetan hat, erhöbe ihn hoch über Dostojewski, dem so etwas noch nicht passiert ist. Zola galt der liberalen Kritik als Schweinkerl, aber wer »j’accuse« sagt, s’excuse. Und wer galt Herrn Max Nordau nicht als Schweinkerl? Nicht als Entarteter? Als Idiot, als Halbnarr, Faselhans oder alter Tepp? Welcher Große blieb vor Verkleinerung bewahrt, welcher Alte vor Ehrfurchtsverletzung, welcher Tote vor Grabschändung? Wo lebte oder starb ein Nietzsche, ein Flaubert, ein Ibsen, ein Baudelaire, ein Puvis de Chavannes, ein Rodin, ein Oscar Wilde, der es nicht zu spüren bekam, daß selbst die Distanz, die ihn von einem Nordau trennt, überspuckt werden kann? Tolstoi einen alten Teppen zu nennen ist ein Unterfangen, das den Freisinn zur Abwehr herausfordert. Er hat vor der Zeiten Ungunst längst die Retirade bezogen; aber wenn er hört, daß die Bildung in Gefahr ist, gerät er aus dem Häuschen, in dem er sonst das Ende seiner Tage abgewartet hätte — der alte Tepp! Hält noch den Schlüssel zur wahren Erkenntnis in der Hand und das Zeitungspapier, dessen er sich bedient, und läuft auf die Gasse. Mit Prügeln wollen wir ihn zurückjagen. Denn wir brauchen seine Aufklärung nicht. Wir wissen schon, daß Herr Bielohlawek nicht berechtigt war, Tolstoi mit einem Wort abzutun. Herr Nordau hat das ausführlicher besorgt. Tolstoi ist kein alter Tepp, sondern: »Tolstois Weltanschauung, die Frucht der verzweiflungsvollen Denkarbeit seines ganzen Lebens, ist nichts als Nebel, Unverständnis seiner eigenen Fragen und Antworten und hohler Wortschwall« (»Entartung« Bd. I, S. 275). Tolstoi ein alter Tepp? Nein, er läßt bloß durch eine seiner Figuren eine »delirierende Theorie vom Lebensgesetz« entwickeln (S. 286). Diese ist dem gesunden Menschenverstand des Herrn Nordau »sofort als das erkennbar, was sie ist: als Wahnsinn« (S. 287). »Kindisch sind seine Beschwerden und Spöttereien. Er spricht von der Wissenschaft wie der Blinde von den Farben ... Er gleicht Bouvard und Pécuchet, den beiden Idioten Flauberts, die gänzlich unwissend, ohne Lehrer und Führer, wahllos eine Anzahl Bücher durchblättern, selbstverständlich eine haarsträubende Dummheit nach der andern begehen und sich dann berechtigt glauben, auf die Wissenschaft zu schimpfen ... Der Entartete Flaubert und der Entartete Tolstoi begegnen sich hier in demselben Delirium« (S. 288). Ein alter Tepp? Nein, sage ich! Denn als Philosophie gibt der Tolstoismus »über Welt und Leben mit einigen sinnlosen oder widerspruchsvollen Umschreibungen absichtlich mißverstandener Bibelverse Aufschluß« (S. 291). Ein alter Tepp? Mehr Respekt, wenn ich bitten darf! Tolstois Mystizismus ist »eine von Emotivität begleitete krankhafte Dunkelheit und Zusammenhanglosigkeit des Denkens« (S. 293). Wie, ein alter Tepp? Er, der »der bloße Abklatsch einer Menschengattung ist, die in jedem Zeitalter Vertreter gehabt hat« und als deren Beispiel »Lombroso einen Verrückten anführt, der um 1680 in Schleswig lebte und behauptete, daß es weder Gott noch Hölle gebe, daß Priester und Richter unnütz und schädlich seien und die Ehe eine Unsittlichkeit u.s.w.« (S. 294). Ein alter Tepp? Hol’ die Pest alle Grobiane! Aber »der geistesklare, gesunde Turgeniew hat, ohne die Erfahrungen der Irrenärzte zu kennen, aus seiner natürlichen Empfindung heraus die innige Liebe Tolstois zu dem bedrückten Volke eine hysterische genannt ... Im Gegensatze zum selbstsüchtigen Geistesschwachen, lehrt Legrain, haben wir den Geistesschwachen, der menschenliebend ist, der tausend absurde Systeme aufbaut, um das Glück der Menschheit herbeizuführen« (S. 297). Und Legrain und Turgeniew haben Recht und weiß Gott, selbst Herr Nordau hat ausnahmsweise Recht! Und nur Herr Bielohlawek hat Unrecht. Er wird es sich künftig überlegen, mit solchen Worten herumzuwerfen. Nicht vergebens soll die Neue Freie Presse für die geistige Unversehrtheit Tolstois zweimal täglich jene Lanze gebrochen haben, die Gottfried von Bouillon, der bekanntlich gesagt hat, daß der Zinsfuß mit uns ist, in ihrem Lager zurückgelassen hat. Denn zwischen Bielohlawek und Nordau ist doch ein gewaltiger Unterschied: der eine spricht im Dialekt, der andere im Jargon. Wenn nun aber jemand einwenden sollte, daß die Ehrfurchtsbezeigungen des Herrn Nordau für Tolstoi bloß in einem Buch stehen und daß die Neue Freie Presse noch nicht dafür gesorgt hat, in ihren eigenen Spalten das Opfer des Herrn Bielohlawek dem Schutz des Herrn Nordau zu überantworten, so ist er ein unaufmerksamer Leser der Neuen Freien Presse. Denn wahrlich, ich sage euch, Herr Nordau hat auch hier schon das Seine getan, und Herr Bielohlawek hätte sich ein Beispiel daran nehmen können, wie respektvoll der gesunde Menschenverstand der ehrwürdigen Erscheinung eines großen Denkers gegenübersteht, von dem der Journalismus erwartet, daß er demnächst in vollster geistiger und körperlicher Frische seinen achtzigsten Geburtstag feiern wird. Denn es geschah im Jahre 1901 im zwölften Monat, am 28. des Monates, da redete Nordau zu den über die ganze Welt zerstreuten Lesern der Neuen Freien Presse und sprach: daß Tolstoi für »Millionen hochgebildeter Russen« nichts ist als ein »absurder Konfusionsrat, der nur lächerlich wäre, wenn sein mystisch-anarchistisches Geschwätz Schwachköpfen nicht gefährlich werden könnte«.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 250, X. Jahr
Wien, 14. April 1908.


  1. Der Verfasser bekennt hier unumwunden, daß er der alten Auffassung von kriegerischer Tapferkeit, der diese Wendung entstammte, in dem Augenblick entsagt hat, als die blutige Wirklichkeit des Maschinenmordes ihr zu widersprechen anhub, also am 1. August 1914, bis zu welchem Zeitpunkt selbst der pazifistische Gedanke nicht voll geahnt hat, wie berechtigt er war.