Zum Hauptinhalt springen

Der Bulldogg

Juli 1907

›Simplicissimus‹ heißt der artige Schoßhund, der noch immer die Träume des deutschen Philisters in der roten Maske des gefährlichen Bullenbeißers schreckt. Im Leben ist er für jeden Bissen dankbar, den ihm die Firma Albert Langen zuwirft; er ist nicht weniger harmlos, aber weniger ehrlich, als der Dackel, dem die Verleger der ›Fliegenden Blätter‹ zurufen: Waldl, gehst her oder net! — denn er geht immer her. Es ist hier schon öfter das Thema der Scheinheiligkeit dieser Teufelei berührt worden, mit der der ›Simplicissimus‹ das Geistesleben des deutschen Bürgertums zu gefährden vorgibt. All dies Getue einer literarischen Modernität, das die zeichnerischen Gaben einiger außerordentlicher Könner begleitet, ist die purste Mischung aus Impotenz und Heuchelei. Es kommt im Lauf eines Jahres nicht selten vor, daß sich junge deutsche Autoren an mich mit Beiträgen wenden, die ihnen die freiesten Diener des deutschen Philisteriums, der Herausgeber der ›Zukunft‹ und der Redakteur des ›Simplicissimus‹, unter ausdrücklicher Anerkennung des künstlerischen Niveaus, aber mit dem Bedauern, daß es Rücksichten auf die Sittlichkeit gebe, abgelehnt haben. Ein in jeder Beziehung vortrefflicher Kenner der Langen’schen Verlegerseele, Frank Wedekind, hat mir einmal gesagt, der ›Simplicissimus‹ habe es bloß deshalb auf die Klerikalen so scharf, weil er die Institution der Pfarrersköchinnen für unmoralisch halte; und ich erinnere mich noch des schönen Tages, da Liliencron mir sein Gedicht »Die alte Hure im Heimatdorf« rezitierte und dessen Erscheinen im ›Simplicissimus‹ in Aussicht stellte, und des andern schönen Tags, da es unter dem Titel »Im Heimatdorf« im ›Simplicissimus‹ erschien. Daß ein herzhafter Griff in Webers Demokritos oder in einen alten Band der ›Fliegenden Blätter‹ ein Witzblatt frischer erhält, als der Abdruck der gesammelten Anekdoten des Herrn Roda Roda, hat die Redaktion des ›Simplicissimus‹ endlich eingesehen und zu ihren sonstigen Tugenden auch die der literarischen Bescheidenheit gesellt. Noch scheint sie vor dem endgültigen Verzicht auf das Raffinement einiger Mitarbeiter, die es durchaus mit der Psychologie und mit der Stimmungskunst halten wollen, zu zaudern; noch ist sie zum Rückzug in die Heimat der Schwipse und Pumpversuche, die ein deutscher Humorist nie ungestraft verläßt, nicht endgültig entschlossen. Aber die Zeit ist nicht mehr fern, wo man die »Bilder aus dem deutschen Familienleben« nur mehr unter den Titeln suchen wird, die dem Weinreisenden so angenehm im Ohre klingen: »Abgeblitzt«, »Ein Schwerenöter«, »Gut gegeben«, »Übertrumpft«, »Schlechte Ausrede«, »Immer derselbe«, »Schlagfertig«, »So, so!«, »Ein Praktikus«, »Durch die Blume« u.s.w.

Die Revolution war lange genug ein gutes Geschäft des Herrn Langen. Aber in der Geschichte des Zeitschriftenwesens ist noch jede Revolution einer zielbewußten Administration gewichen. Die Auswahl der menschlichen Schwächen, die die Satiriker geißeln, besorgen die Verleger, und kein gesellschaftlicher Übelstand könnte heute Ungnade vor den Augen des ›Simplicissimus‹ finden, den Herr Albert Langen pardonniert hätte. Wenn der ›Simplicissimus‹ eine »Automobil-Nummer« vorbereitet, so wird zuerst gebremst und dann gefahren. Wenn Herr Albert Langen seine Mitarbeiter zu einer Herkomerkonkurrenz des Witzes vereinigt, so heißt das: er hat mit einer bestimmten Automobilfirma ein Abkommen getroffen, wonach er den ganzen zeichnerischen und textlichen Witz einer Nummer des ›Simplicissimus‹ in den Dienst dieser Firma stellt. Nun verschlägt es gewiß nichts, daß selbst Künstler, wie Heine und Gulbransson, einem Industriellen Plakate oder auch illustrierte Annoncen in dem Blatte liefern, in dem sie sonst als freie Satiriker wirksam sind. Aber böse ist es, wenn diese Annoncen zugleich den Zweck illustrieren, dem der redaktionelle Inhalt des Blattes dient. Wer beim Anblick der Zeichnungen und bei der Lektüre der Novellen den Kopf schüttelt und dennoch zweifelt, ist plötzlich eingeweiht, wenn er die an sich durchaus erlaubten Annoncen mit den redaktionellen Beiträgen vergleicht. Von hier und dort springt ihm der Name »Züst« in die Augen. Der Name einer neuen Automobilfirma, der Herr Albert Langen die Marke seines Hundes, der das Bellen wie das Beißen verlernen soll, für ein Weilchen geliehen hat. Ein Inserat Th. Th. Heines, das die Erzeugnisse der Firma Züst verherrlicht, wäre an und für sich nur nach seinem künstlerischen Wert zu beurteilen. Daß die Front eines Züst’schen Kraftwagens der bekannte rote Bullenkopf bildet und daß ein Heine’scher Teufel den Chauffeur macht, ist schon eine traurige Symbolik. Vielleicht eine absichtliche: Wir sind ausgeliehen! scheint die Satire des Th. Th. Heine, die sich gegen den Herrn kehrt, der sie abrichten will, zu sagen. Aber siehe da, aus einer süßen Zeichnung des Herrn Reznicek, die das Hauptblatt schmückt, winkt dir der Name der einen und einzigen Automobilfirma entgegen: Hochzeitsreisende fahren nur mit Züst! Und selbst Herr Meyrink hat nicht umhin können, in eine seiner novellistischen Skizzen, in denen entweder die Wissenschaft mit der Phantasie oder der Buddhismus mit der Infanterie im Streite liegt, die neue Automobilmarke einzuführen. In der folgenden Nummer wird nur noch im Inseratenteil gefahren. Herr Gulbransson ist ein tüchtiger Chauffeur. Aber der Charakter jener Eingebungen künstlerischer Schöpferlaune, die den redaktionellen Inhalt der Automobil-Nummer gebildet haben, wird nachträglich durch ihre wortlose Übernahme in den Annoncenteil unterstrichen. Das Hochzeitsreisendenpaar des Herrn Reznicek sieht jetzt bloß auf die Strecke. Ehedem hat der Gatte ihr den Vorwurf machen müssen, daß sie immer mit ihren Füßen zu ihm herüberkomme, so daß er Gefahr laufe, die Bremse zu verlieren. Im Annoncenteil geht’s wie geschmiert ... Nun, wer die Entwicklung des Herrn Albert Langen kennt, wird es begreiflich finden, daß gerade er mit einem Sport sympathisiert, der ein rasches Verschwinden mit Zurücklassung von Gestank ermöglicht. Aber sonst bellen die Bulldogge nur, wenn ein Automobil vorüberfährt. Dieser springt auf.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 230-231, IX. Jahr
Wien, 15. Juli 1907.