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§ 62. Überschauende Charakteristik der intentionalen Auslegung der Fremderfahrung

Kehren wir am Abschluß dieses Kapitels auf den Einwand zurück, von dem aus wir uns zunächst haben leiten lassen, den Einwand gegen unsere Phänomenologie, sofern sie von vornherein den Anspruch erhöbe, Transzendentalphilosophie zu sein, also als solche die Probleme der Möglichkeit objektiver Erkenntnis zu lösen. Dazu sei sie im Ausgang von dem transzendentalen Ego der phänomenologischen Reduktion und daran gebunden nicht mehr befähigt, sie verfalle, ohne es wahrhaben zu wollen, in einen transzendentalen Solipsismus, und der ganze Schritt zur fremden Subjektivität und echten Objektivität sei nur möglich durch eine uneingestandene Metaphysik, durch eine geheime Übernahme Leibnizischer Traditionen.

Der Einwand zerfließt in seiner Haltlosigkeit nach den durchgeführten Auslegungen. Es ist vor allem zu beachten, daß an keiner Stelle die transzendentale Einstellung, die der transzendentalen epoché verlassen worden ist und daß unsere Theorie der Fremderfahrung, der Erfahrung von Anderen, nichts weiteres sein wollte und sein durfte als die Auslegung ihres Sinnes Anderer aus ihrer konstitutiven Leistung, des Sinnes wahrhaft seiender Anderer aus den entsprechenden Synthesen der Einstimmigkeit. Was ich als Anderen einstimmig ausweise und dabei also in Notwendigkeit und nicht in Willkür als eine zu erkennende Wirklichkeit gegeben habe, das ist in transzendentaler Einstellung eo ipso der seiende Andere, das alter ego, ausgewiesen eben innerhalb der erfahrenden Intentionalität meines Ego. Innerhalb der Positivität sagen wir und finden es selbstverständlich: in meiner eigenen Erfahrung erfahre ich nicht nur mich selbst, sondern in der besonderen Gestalt der Fremderfahrung den Anderen. Die zweifellose transzendentale Auslegung zeigte uns nicht nur das transzendentale Recht dieser positiven Aussage, sondern, daß auch das transzendentale, konkret gefaßte Ego (das in der transzendentalen Reduktion vorerst mit unbestimmtem Horizont seiner selbst inne wird) sowohl sich selbst in seinem primordialen Eigensein als auch, in Form seiner transzendentalen Fremderfahrung, Andere, andere transzendentale Ego's erfaßt, obschon sie nicht mehr in Originalität und schlichter apodiktischer Evidenz, sondern in einer Evidenz äußerer Erfahrung gegeben sind. In mir erfahre, erkenne ich den Anderen, in mir konstituiert er sich — appräsentativ gespiegelt, und nicht als Original. Insofern kann in einem erweiterten Sinne sehr wohl gesagt werden, daß das Ego, daß ich als meditierend Auslegender, durch Selbstauslegung, nämlich Auslegung dessen, was ich in mir selbst finde, alle Transzendenz gewinne, und als transzendental konstituierte, also nicht als in naiver Positivität hingenommene. So verschwindet der Schein, daß alles, was ich als transzendentales Ego aus mir selbst als seiend erkenne und als in mir selbst Konstituiertes auslege, mir selbst eigenwesentlich zugehören muß. Nur von den immanenten Transzendenzen gilt das; Konstitution als Titel für die mir als Ego in der Eigenwesentlichkeit Sinn und Sein zueignenden Systeme synthetischer Aktualität und Potentialität besagt Konstitution von immanenter gegenständlicher Wirklichkeit. Zu Anfang der Phänomenologie und in der Einstellung des erst Anfangenden, der eben erst die phänomenologische Reduktion als universalen Habitus konstitutiven Forschens zur Urstiftung bringt, ist das in den Blick tretende transzendentale Ego zwar apodiktisch erfaßt, aber mit einem ganz unbestimmten Horizont, der bloß dadurch in Allgemeinheit gebunden ist, daß die Welt und alles, was ich von ihr weiß, zu bloßem Phänomen werden soll. Es fehlen also, wenn ich so anfange, alle Unterscheidungen, die erst die intentionale Auslegung schafft, und die doch, wie ich einsehe, wesensmäßig zu mir gehören. Vor allem fehlt also die Selbstverständigung über mein primordiales Wesen, meine Eigenheitssphäre im prägnanten Sinne, und was in ihr selbst unter dem Titel Fremderfahrung als Fremdes, als ein appräsentiertes, aber prinzipiell nicht in meiner primordialen Sphäre selbst orginal Gegebenes und je zu Gebendes sich konstituiert. Ich muß erst das Eigene als solches auslegen, um zu verstehen, daß im Eigenen auch Nichteigenes Seinssinn bekommt, und zwar als analogisch Appräsentiertes. So verstehe ich, der Meditierende, am Anfang nicht, wie ich, da die anderen Menschen insgesamt eingeklammert sind, überhaupt zu Anderen und mir selbst kommen soll. Im Grunde verstehe ich auch noch nicht und erkenne es nur widerwillig an, daß ich selbst, mich als Menschen und als menschliche Person einklammernd, nun doch als Ego erhalten bleiben soll. So kann ich noch nichts wissen von einer transzendentalen Intersubjektivität; unwillkürlich halte ich mich, das Ego, für einen solus ipse, und halte alle konstitutiven Bestände, schon nachdem ich ein erstes Verständnis gewonnen habe für konstitutive Leistungen, immer noch für bloß eigene Gehalte dieses einzigen Ego. So wären also die weitergehenden Auslegungen des vorliegenden Kapitels notwendige. Durch sie erst wird uns der volle und eigentliche Sinn des phänomenologisch-transzendentalen „Idealismus“ verständlich. Der Schein eines Solipsismus ist aufgelöst, obschon der Satz die fundamentale Geltung behält, daß alles, was für mich ist, seinen Seinssinn ausschließlich aus mir selbst, aus meiner Bewußtseinssphäre schöpfen kann. Dieser Idealismus ergab sich als eine Monadologie, die bei allen absichtlichen Anklängen an Leibnizens Metaphysik ihren Gehalt rein aus der phänomenologischen Auslegung der in der transzendentalen Reduktion freigelegten transzendentalen Erfahrung schöpft, also aus der ursprünglichsten Evidenz, in der alle erdenklichen Evidenzen gründen müssen — oder aus dem ursprünglichsten Recht, aus dem alle Rechte und insbesondere Erkenntnisrechte je schöpfen können. Phänomenologische Auslegung ist also wirklich nichts dergleichen wie metaphysische Konstruktion und nicht, weder offen noch versteckt, ein Theoretisieren mit übernommenen Voraussetzungen oder Hilfsgedanken aus der historischen metaphysischen Tradition. Sie steht zu all dem in schärfstem Gegensatz durch ihr Verfahren im Rahmen reiner Intuition, oder vielmehr der reinen Sinnesauslegung durch erfüllende Selbstgebung. Insbesondere tut sie hinsichtlich der objektiven Welt der Realitäten (wie auch jeder der mannigfaltigen idealen objektiven Welten, die Felder rein apriorischer Wissenschaft sind) nichts anderes — das kann nicht oft genug eingeschärft werden — als den Sinn auslegen, den diese Welt für uns alle vor jedem Philosophieren hat und offenbar nur aus unserer Erfahrung hat, ein Sinn, der philosophisch enthüllt, aber nie geändert werden kann und der nur aus Wesensnotwendigkeit, und nicht aus unserer Schwäche, in jeder aktuellen Erfahrung Horizonte mit sich führt, die der prinzipiellen Klärung bedürfen.