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Was Johann Heinrich Voß im nachfolgenden Brief seinem Freunde Jean Paul mitteilt, führt den Leser an die Quelle der deutschen Wiedergeburt von Shakespeare. Der Schreiber, der zweite Sohn des Homer-Übersetzers Johann Heinrich Voß, war kein überragender Geist. »Ihm fehlte eine selbständige, energisch auf das Ziel losdringende Natur. Die kindliche Liebe und Verehrung, die er für seinen Vater hegte, raubte ihm schließlich jede geistige Unabhängigkeit. Wie sein Vater ihm als höchstes Vorbild galt, so fügte er sich widerspruchslos seinen Anschauungen und war zufrieden, wenn er mit matterer Stimme die Meinungen des Alten nachsprechen, ihm die Beantwortung eines Briefes abnehmen oder bei seinen Studien dienend helfen konnte.« Die größte Freude seines Lebens mag er gehabt haben, als es ihm gelungen war, den Vater, erst duldend, dann auch tätig, seiner Shakespeareübersetzung zu gewinnen. – Wie es nun aber die Art der natürlichen Quellen ist, daß sie aus den verlorensten Rinnsalen, aus namenloser Feuchte, aus kaum netzenden Wasseradern sich speisen, so auch die der geistigen. Die leben nicht nur von den großen Leidenschaften, denen Same und Blut entquellen, noch weniger von den vielberufenen »Einflüssen«, sondern auch vom Schweiß des mühsamen Alltags und den Tränen, die aus der Begeisterung fließen: Tropfen, die sich dann bald im Strom verlieren. Der folgende Brief – ein einzigartiges Zeugnis für die Geschichte des deutschen Shakespeare – hat ihrer einige aufbehalten.

Johann Heinrich Voss an Jean Paul

Heidelberg, 25. Dezember 1817.

Der heutige und gestrige Tag haben mich zurückversetzt in die früheren Jahre der Kindheit, und ich kann noch gar nicht heraus. Ich weiß noch, mit welcher Ehrfurcht ich des Christkindes gedachte, das ich mir als einen violetten kleinen Engel mit rotgoldenen Flügeln vorstellte, aber seinen Namen wagte ich nicht auszusprechen; bloß gegen meine Großmutter konnte ich's, die mir noch ehrwürdiger schien. Mehrere Tage vor dem Heiligen Abend war ich still in mich gekehrt, aber nie ungeduldig. Rückte aber die heilige Stunde heran, da wuchs die Ungeduld fast bis zum Zerspringen des Herzens. O wie viele Jahrhunderte vergingen, bis endlich die Glocke erschallte. – In späteren Jahren gewannen meine Weihnachtsfreuden andere Gestalt, seitdem Stolberg in Eutin lebte, den ich ganz unaussprechlich liebte, in dessen Gegenwart zu sein, ich, der spielfrohe, jedem Kinderspiele vorzog, dessen Händedruck mich bis ins innere Mark durchschauerte. Dieser Mann gab mir sehr früh Unterricht im Englischen, und als ich vierzehn Jahre alt war, forderte er, ich sollte Shakespeare lesen und mit dem Sturm anfangen. Das geschah, etwa sechs Wochen vor Weihnachten, und am zweiten Weihnachtstage war ich bis an die Maske von Ceres und Juno gekommen. Die Geister, die Ariel für Ferdinand und Miranda beschwört. Damals war ich sehr kränklich. Meine Mutter hatte Stolberg gebeten, er möchte mich dann und wann auf Spazierfahrten mitnehmen. Das geschah an diesem Tage. Eben wollte ich anfangen, die Maske zu lesen, da hielt der Wagen und Stolberg rief mir freundlich zu: »Komm, lieber Heinrich.« Und ich, wie ein Rasender stürzte ich hinaus und in den Wagen hinein. Nun wogte und wühlte es in meinem Herzen. Himmel, wie schwatzte ich dem armen Stolberg die Ohren voll von Shakespeare; und der freundliche Mann ließ sich alles gefallen, und war nur froh, daß Shakespeare bei mir Feuer gefangen. Als wir zurückfuhren, war meine einzige Sorge, der Wagen möchte vor zwölf Uhr, unserer Essenszeit, an unserer Tür halten. Aber Gottlob! es schlug halb eins, als wir noch bei der Fissauer Brücke waren. Nun durfte ich bei Stolberg essen. Ich saß neben ihm, und weiß noch die Gerichte. Wie schmeckte mir nun der Shakespeare, als ich in der Dämmerung zu ihm zurückkehrte. Seit der Zeit sind Shakespeares Sturm, Weihnachten und Stolberg in meiner Phantasie ununterscheidbar verschmolzen oder in eins gewachsen. Kommt der heilige Christ, so muß ich, durch innere Notwendigkeit getrieben, den Sturm lesen, wiewohl ich ihn auswendig weiß, und auf der Zauberinsel jedes Gräschen und Hälmchen kenne. Und das, Du teurer Jean Paul, soll heute Nachmittag von neuem geschehen. Fiele meine Todesstunde aufs Christfest, sie würde mich bei Shakespeares Sturm überraschen.