Zum Hauptinhalt springen

Das Schauspiel »Prominenter«, welche unter hergebrachten Floskeln einem Jubiläum, einer Ehrung sich scheinen entziehen zu wollen, ist uns geläufig. Um aber den Sinn eines Verhaltens zu finden, das dergestalt gewöhnlich nur imitiert wird, muß man wohl in den Zeugnissen deutscher Menschen ein wenig zurückblättern. Da stößt man denn auf diesen Brief des großen Chirurgen Dieffenbach (1795-1847), und jene echte Bescheidenheit, die nicht Demut vor den Leuten, sondern der Anspruch auf Namenlosigkeit ist. Auch von dem, was in diesem Schreiben berührt wird, gelten Dieffenbachs Worte aus der gleichzeitigen Vorrede seiner »Operativen Chirurgie«: »Es sind keineswegs Überschauungen und Rückblicke in ein mühevolles und bewegtes Leben, keine schwermutvollen Betrachtungen am Abend des eigenen Daseins, sondern noch mit der Glut der Jugend und der Gegenwart erfaßte Begebenheiten, nicht bloß von vorgestern, sondern noch von gestern und noch von heute.« Kurz vor dem Tod versichert dieser Brief das fast vollbrachte Leben jener Treue, die den Tätigen zum Feiern so ungeschickt macht. Sie ist gewiß kein Ideal an sich. Wohl aber eignet dies Verhalten den großen Typen des deutschen Bürgertums, denen wir in dieser Briefreihe nachgehen. Wie weit wir dabei aus dem Kreise der »Dichter und Denker« uns entfernen dürfen, ohne darum eine geringere Kraft seiner Prägung zu finden, wird man, mit einiger Verlegenheit vielleicht, den folgenden Zeilen entnehmen.

Johann Friedrich Dieffenbach an einen Unbekannten

Potsdam, 19. Oktober 1847.

Es ist wohl möglich, daß einigen meiner Freunde nicht entgangen ist, daß ich heut vor 25 Jahren promoviert habe. Nur besorge ich, sie könnten von diesem Tage eine Art Aufhebens bei meinen Collegen und Bekannten machen, und etwas veranlassen, wodurch ich mit meinem Empfinden gewissermaßen in die Enge getrieben würde. Von je an ist es mir ein peinlicher Gedanke gewesen, der Löwe einer Feierlichkeit, ein begratulierter Zweckesser zu sein. Ich ließe mir heute lieber etwas operieren, als mich von den edelsten und besten Menschen beglückwünschen. Das ist nicht bloße Demuth, sondern auch eine Art von Sehnsucht nach stiller Einsamkeit an diesem ganz allein für mich wichtigen Tage. Mir sind die 25 Jahre, welche ich für kranke Menschen in meinem Beruf gelebt habe, so schnell und befriedigend verstrichen, als wären es nur 25 Wochen, und ich fühle mich durch das bewegte und erschütternde Leben, in dem ich soviele Schmerzen sah, weder an Geist noch an Körper abgemattet, und es ist mir, als hätten die vielen Kranken, unter denen ich gelebt, mich so gestählt und gestärkt, daß ich auf neue 25 Jahre contrahire.
Wenn also heut am 19. Oktober einige Freunde und Bekannte, sowie andere gute Menschen meiner gedenken, weil sie gehört haben, daß mir heut vor 25 Jahren von dem lieben herrlichen seligen d'Outrepont der Doctorhut auf den Kopf gesetzt sei, so will ich dies freundliche Andenken in aller Stille und Einsamkeit genießen. Ich will ihnen nicht allein dafür danken, sondern auch für alles das Gute und Liebe, welches sie mir erzeigten und wodurch sie mir zur Erreichung meines Lebenszweckes förderlich waren.

Joh. Friedr. Dieffenbach.