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Dem historischen Rückblick enthält der folgende Brief mehr als eine Todesnachricht, und sei es die ganz Deutschland erschütternde vom Hinscheiden Hegels. Er ist ein Treugelöbnis an seiner Bahre, dessen Folgen die, die es ablegten, damals nicht ahnten. Strauß und Märklin, die sich in diesem Briefe so eng verbunden zeigen, gehörten dem gleichen Jahrgang der Klosterschule Blaubeuren an, auf der sie miteinander Freundschaft geschlossen hatten, und zwar der sogenannten »Geniepromotion«. So wenigstens nannte man diesen Jahrgang später auf dem Tübinger Stift, in welches, 1825, Strauß und Märklin als Studenten der Theologie hinübertraten. Unter den übrigen Figuren, die der Gruppe zu dem glanzvollen Namen verhalfen, hat heute freilich nur noch Friedrich Theodor Vischer ein Gesicht. In der schönen gemächlichen Biographie, die Strauß dem Adressaten nach dessen frühem Tod – er starb mit 42 Jahren 1848 – gewidmet hat, stellt er anmutig das Bild des berühmten Stifts hin, das im Laufe der Zeit »so viele bauliche Umwandlung erfahren, daß es kein klösterliches, ja kaum mehr ein altertümliches Ansehen hat. Mit der Hauptseite gegen Süden gewendet, sonnig und luftig, die höheren Stockwerke mit entzückender Aussicht auf die dunkelblaue Mauer der schwäbischen Alp, welche über dem theatralisch auseinandertretenden Vordergrunde des Steinlachtales sich als Hintergrund erhebt, ist das ganze Gebäude, die beiden Hörsäle und den Speisesaal ausgenommen, in Arbeits- und Schlafzimmer für je 6 bis 10 Bewohner in der Art abgeteilt, daß, ähnlich wie in Blaubeuren, allemal zwischen zwei Studierzimmern der Zöglinge ein Repetentencabinett sich befindet.« Wenn Strauß später das Stift verließ, um die unmittelbare Auseinandersetzung mit den Gedanken zu suchen, die von Berlin aus damals Deutschland bewegten, so waren die beiden Freunde doch 1833 von neuem als Repetenten im Stift vereinigt und zwei Jahre später erschien dann das »Leben Jesu«, das nicht nur für seinen Verfasser Strauß, sondern auch für Märklin Ursprung lang andauernder Kämpfe wurde, in denen die Theologie der Junghegelianer sich bildete. Ausgangspunkt der Hegelstudien für beide war die »Phänomenologie«. »Hegel, welcher einst mit Märklins Vater zu gleicher Zeit in das Tübinger Stift eingetreten war, hatte lange in seiner schwäbischen Heimat nur geringe Beachtung gefunden. Nun erwuchs ihm auf einmal in dem Sohne Märklins und dessen Freundeskreis ein Häuflein von begeisterten Anhängern; nur zogen sie in theologischen Dingen die Konsequenzen jenes Systems viel kühner als der Meister selbst.« Im »Leben Jesu« führen diese Konsequenzen zu einer Synthese der supranaturalistischen und der rationalen Auslegung des Neuen Testaments, dergestalt, daß, um mit Strauß zu reden, »als Subjekt der Prädikate, welche die Kirche Christo beilegt, statt eines Individuums eine Idee, aber eine reale, nicht Kantisch unwirkliche, gesetzt wird. In einem Individuum, einem Gottmenschen, gedacht, widersprechen sich die Eigenschaften und Funktionen, welche die Kirchenlehre Christo zuschreibt: in der Idee der Gattung stimmen sie zusammen.« Das waren Perspektiven der Hegeischen Lehre, die, so keimhaft sie im Jahre 1831 noch verschlossen lagen, die konventionelle Erbaulichkeit einer Totenfeier nicht gerade beförderten. Und es war nicht allein der werdende Verfasser des Lebens Jesu, der bei dieser Bestattung den Mißklang empfand, in dem eine umstürzende und unvorhergesehene Art des Fortlebens sich ankündigte. »Das Entsetzen«, schreibt sehr vermittelnd J.E.Erdmann, gleichfalls ein Hegelianer, »darüber, daß er, den man noch eben frisch und munter gesehen hatte, dahingerafft war, muß als ein Entschuldigungsgrund für manches an seinem Grabe gesprochene Wort gelten. Er war zu groß gewesen, als daß die Kleinen, denen er Halt gab, nicht außer Fassung und Haltung hätten kommen sollen.«

David Friedrich Strauss an Christian Märklin

Berlin, den 15. November 1831.

An wen, geliebtester Freund! soll ich es schreiben, daß Hegel tot ist, als an Dich, dessen ich auch am meisten gedachte, so lange ich den Lebenden hören und sehen konnte? Zwar die Zeitungen melden es Dir wohl, ehe Dich mein Brief erreicht; aber auch von mir sollst und mußt Du es hören. Ich hoffte, Dir Erfreulicheres von Berlin aus schreiben zu können! Denke Dir, wie ich es erfuhr. Ich hatte Schleiermachern nicht treffen können, bis diesen Morgen. Da fragte er natürlich, ob mich die Cholera nicht abgeschreckt habe zu kommen, worauf ich erwiderte, daß ja die Nachrichten immer beruhigender geworden, und sie jetzt wirklich fast zu Ende sei. Ja, sagte er, aber sie hat noch ein großes Opfer gefordert – Professor Hegel ist gestern Abend an der Cholera gestorben. Denke Dir diesen Eindruck! Der große Schleiermacher, er war mir in diesem Augenblick unbedeutend, wenn ich ihn an diesem Verluste maß. Unsere Unterhaltung war zu Ende, und ich entfernte mich eilig. Mein erster Gedanke war: nun reisest du ab, was tust du ohne Hegel in Berlin? Bald aber besann ich mich und bleibe nun. Hergereist bin ich einmal, – auf eine weitere Reise komme ich nicht mehr, und hier ist Hegel zwar gestorben, aber nicht ausgestorben. Ich freue mich, daß ich den großen Meister noch gehört und gesehen habe vor seinem Ende. Ich hörte beide Vorlesungen bei ihm: über Geschichte der Philosophie und Rechtsphilosophie. Sein Vortrag gab, wenn man von allen Äußerlichkeiten absieht, den Eindruck des reinen Fürsichseins, das sich des Seins für Andere nicht bewußt war, d.h. er war weit mehr ein lautes Sinnen, als eine an Zuhörer gerichtete Rede. Daher die nur halblaute Stimme, die unvollendeten Sätze, wie sie so augenblicklich in Gedanken aufsteigen mögen. Zugleich aber war es ein Nachdenken, wie man wohl an einem nicht ganz ungestörten Orte dazu kommen mag, es bewegte sich in den bequemsten, konkretesten Formen und Beispielen, die nur durch die Verbindung und den Zusammenhang, in welchem sie standen, höhere Bedeutung erhielten. Am Freitag hatte er beide Vorlesungen noch gehalten; Samstag und Sonntag fielen sie ohnehin weg; am Montag war angeschlagen, daß Hegel wegen plötzlicher Krankheit seine Vorlesungen aussetzen müsse, aber am Donnerstag ihre Fortsetzung anzeigen zu können hoffe, aber noch an eben dem Montag war ihm das Ziel gesetzt. Vorigen Donnerstag besuchte ich ihn. Wie ich ihm Namen und Geburtsort nannte, sagte er gleich: ah, ein Württemberger! und bezeugte eine herzliche Freude. Er fragte mich nach allerlei Württembergischen Verhältnissen, in welchen er noch mit ehrlicher Anhänglichkeit lebte, z.B. nach Klöstern, nach dem Verhältnis von Alt- und Neu- Württembergern und dergl. Über Tübingen sagte er, er höre, daß daselbst üble und zum Teil gehässige Vorstellungen über seine Philosophie herrschen; es treffe auch hier zu, sagte er lächelnd, daß ein Prophet nichts gilt in seinem Vaterlande. Von dem wissenschaftlichen Geiste in Tübingen hatte er die eigene Vorstellung, es werde da zusammengetragen, was dieser und was jener von einer Sache halte, da habe der das darüber gesagt, ein anderer jenes, auch lasse sich das noch sagen u.s.f. Es ist dies wohl für unsere Zeit nicht mehr ganz richtig über Tübingen – der gesunde Menschenverstand und das orthodoxe System sind positivere Mittelpunkte seiner Theologie und Philosophie. Nach Deinem Vater erkundigte sich Hegel mit vieler Teilnahme, die Erwähnung Maulbronns brachte ihn darauf, er sagte, daß er mit ihm durch's Gymnasium und die Universität gegangen. Er wußte ihn noch in Neuenstadt; als ich sagte, daß er nun Prälat in Heilbronn sei, sagte der alte Württemberger: so, jetzt ist auch in Heilbronn ein Prälat? – Wenn man Hegeln auf dem Katheder sah und hörte, so gab er sich so unendlich alt, gebückt, hustend usw., daß ich ihn 10 Jahre jünger fand, als ich auf's Zimmer zu ihm kam. Graue Haare allerdings, bedeckt von jener Mütze, wie sie das Bild bei Binder zeigte, bleiches, aber nicht verfallenes Gesicht, helle blaue Augen und besonders zeigten sich beim Lächeln noch die schönsten weißen Zähne, was einen sehr angenehmen Eindruck machte. Er gab sich ganz als einen guten alten Herrn, wie ich bei ihm war, und sagte am Ende, ich solle öfters bei ihm einsprechen, er wolle mich dann auch mit seiner Frau bekannt machen. – Nun Morgen Mittag um 3 Uhr wird er begraben. Die Bestürzung ist ungemein auf der Universität; Henning, Marheineke, selbst Ritter lesen gar nicht, Michelet kam fast weinend auf den Katheder. Mein Stundenplan ist nun ganz zerrissen; ich weiß nicht, ob nicht vielleicht jemand die Hefte der zwei angefangenen Kollegien abzulesen unternehmen wird. Sonst höre ich bei Schleiermacher die Enzyklopädie, bei Marheineke den Einfluß der neueren Philosophie auf die Theologie, und jetzt, da Hegels Vorlesung wegfällt, kann ich auch noch die Geschichte des kirchlichen Dogma bei ihm hören, welche er zu gleicher Stunde mit Hegel las. Bei Henning höre ich Logik, bei Michelet Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Schleiermacher ist, weil er extemporiert, nicht leicht nachzuschreiben – er hat mich überhaupt bis jetzt – auch das Predigen miteingeschlossen, noch nicht besonders angezogen, – ich muß ihn zuvor mehr persönlich kennen lernen. Marheineke's Vortrag stellt man falsch dar, wenn man ihn stolz und affektiert nennt, er ist sehr würdig und mit unverkennbaren Spuren von Gefühl. Der freundlichste Mann hier ist aber Hitzig, der mir schon unzählige Gefälligkeiten erwiesen hat. Gestern führte er mich in eine Gesellschaft ein, in welcher namentlich Chamisso zu treffen war. Man liest Fichte's Leben vor. Chamisso, ein ältlicher, langer, hagerer Mann, mit einem grauen altdeutschen Haar, aber kohlschwarzen Augenbrauen. Im Gespräch ist er nicht viel, zerstreut, das Gesicht greulich verziehend, aber freundlich und zuvorkommend. So hätte ich also alles, – nur Dich, mein Bester, nicht und keinen der mir Dich irgend ersetzen könnte. Warum bist Du so eigensinnig fortgerannt, ohne auf uns zu warten? wirst Du sagen. Um Hegel noch zu sehen und ihm mit der Leiche zu gehen, antworte ich. Sende diesen Brief Bührern, damit er meinen Eltern sagt – worauf sie begierig sein werden – was ich jetzt nach Hegel's Tode zu tun gedenke. Den 17. Gestern haben wir ihn begraben. Um 3 Uhr hielt Marheineke als Rektor im Universitäts-Saale eine Rede, einfach und innig, mich ganz befriedigend. Er stellte ihn nicht nur als König im Reich des Gedankens, sondern auch als echten Jünger Christi im Leben dar. Er sagte auch, was er bei einer kirchlichen Feier nicht würde gesagt haben, daß er wie Jesus Christus durch den leiblichen Tod zur Auferstehung im Geiste, den er den Seinigen gelassen, hindurchgedrungen sei. Hierauf ging der ziemlich tumultarische Zug vor's Trauerhaus und von da zum Gottesacker. Dieser war mit Schnee bedeckt, rechts stand die Abendröte, links der aufgehende Mond. Neben Fichte, wie er gewünscht hatte, wurde Hegel beigesetzt. Ein Hofrat Fr.Förster, ein Poet und Anhänger Hegel's, hielt eine Rede voll leerer Phrasen, wie das Gewitter, das lange über unseren Häuptern gestanden, und sich schon verziehen zu wollen schien, noch mit einem zündenden Strahl und hartem Donnerschlag ein hohes Haupt getroffen; und dies mit einem Ton, wie wenn man dem Kerl einen Sechser gegeben hätte, um das Ding geschwind abzulesen. Nachdem dies beendigt war, trat man näher zum Grab und eine von Tränen gedämpfte, aber hochfeierliche Stimme sprach: Der Herr segne Dich. Es war Marheineke. Dieser Eindruck befriedigte mich wieder ganz. Beim Austritt aus dem Gottesacker sah ich einen jungen Mann weinen und hörte ihn von Hegel sprechen. Ich schloß mich ihm an; es war ein Jurist, vieljähriger Schüler Hegel's. Damit Gott befohlen.