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Unbestechlicher Blick und revolutionäres Bewußtsein haben von jeher vor dem Forum der deutschen Literaturgeschichte einer Entschuldigung bedurft: der Jugend oder des Genius. Geister, die keins von beiden aufzuweisen hatten – männliche und im strengen Sinne prosaische, wie Forster oder wie Seume es waren – haben es nie zu mehr als einem schemenhaften Dasein in der Vorhölle allgemeiner Bildung gebracht. Daß Seume kein großer Dichter war, ist gewiß. Aber nicht das unterscheidet ihn von vielen andern, die an sichtbaren Stellen in der Geschichte der deutschen Literatur geführt werden, sondern die untadlige Haltung in allen Krisen und die Unbeirrbarkeit, mit der er – da er nun einmal von hessischen Werbern unter das Militär war verschleppt worden – in seiner Lebensführung jederzeit den wehrhaften Bürger darstellt, lange nachdem er den Offiziersrock abgelegt hatte. Was das achtzehnte Jahrhundert unter dem »ehrlichen Mann« verstanden hat, das kann man an Seume gewiß so gut wie an Tellheim ablesen. Nur daß Seume die Ehre des Offiziers nicht so weit ab von der des Räubers, wie seine Zeitgenossen ihn in Rinaldo Rinaldini verehrten, gelegen hat, so daß er auf dem Spaziergang nach Syrakus gestehen kann: »Freund, wenn ich ein Neapolitaner wäre, ich wäre in Versuchung, aus ergrimmter Ehrlichkeit ein Bandit zu werden und mit dem Minister anzufangen.« Auf diesem Spaziergang hat er die Nachwirkungen der unglücklichen Beziehung zu der einzigen Frau überwunden, der er näher, nicht einmal nahe getreten ist und die an seine Stelle auf verletzende Weise den Mann berief, an welchen der folgende Brief gerichtet ist. Wie diese Überwindung sich vollzog, erzählt er gelegentlich der Beschreibung seines Aufstiegs auf den Pellegrino in der Nähe Palermos. Im Ausschreiten zog er, seinen Betrachtungen folgend, ein Amulett mit dem Bild der Frau hervor, von dem er sich durch all die Jahre nicht hatte trennen können. Wie er es aber zwischen den Fingern hielt, gewahrte er auf einmal, daß es zerbrochen war, und so warf er die Stücke samt der Fassung in den Abgrund hinunter. Das ist das Motiv des großartigen, wahrhaft taciteischen Epigraphs, das er an dieser Stelle seines Hauptwerks seiner Liebe errichtet hat: »Ehemals wäre ich ihrem Bildchen nachgesprungen; auch jetzt noch dem Original.«

Johann Gottfried Seume an den Gatten seiner früheren Verlobten

Mein Herr!
Wir kennen einander nicht; aber die Unterschrift wird Ihnen sagen, daß wir einander nicht ganz fremd sind. Meine ehemaligen Verhältnisse zu Ihrer Frau können, dürfen und müssen Ihnen nicht unbekannt sein. Sie würden vielleicht nicht übel getan haben, meine Bekanntschaft früher gemacht zu haben; ich störe Niemandes Glück. Ob Madam gegen mich ganz gut gehandelt hat, kann ich nicht entscheiden, eben so wenig als Sie; da wir Beide nicht gleichgültig sind. Ich vergebe ihr gern und wünsche ihr Glück; es war ja nie etwas Anderes der Wunsch meines Herzens. Einige meiner Freunde wollen mir Glück wünschen, daß die Sache so gekommen ist; sie überzeugen fast meinen Kopf; aber mein Herz blutet bei der Überzeugung. Da Sie mich nicht kennen, dürfen Sie über mich nicht urteilen. Ich bin weder Antinous noch Aesop, und Mademoiselle Röder muß doch vorzüglich den ehrlichen, guten Mann zu sehen geglaubt haben, als sie mir sehr teuere Versicherungen gab. Doch stille davon! Es geziemt mir nicht, mich zu rechtfertigen, und noch weniger, Andere anzuklagen. Was die Leidenschaft tat, hat – die Leidenschaft getan. Ich bin nicht Ihr Freund, das leiden die Verhältnisse nicht; da ich aber ein ehrlicher Mann bin, ist es für Sie so gut, als ob ich es wäre. Sie selbst, mein Herr, haben bei der Sache als ein junger, nicht ganz ernsthafter Mann gehandelt. Ich wünsche Ihnen Glück; Sie haben das nötig. Ihre Frau ist gut, ich habe sie tief beobachtet, und ich würde nicht im Stande gewesen sein, mein Herz an eine Unwürdige zu verlieren. Daß zwischen uns nichts Strafbares vorgefallen ist, dafür muß Ihnen mein Charakter und meine jetzige Handlungsweise bürgen. – Sie müssen ihr manchen Fehler vergeben und selbst keinen begehen. Es ist mir daran gelegen, daß Sie Beide glücklich sind; das wird Ihnen begreiflich sein, wenn Sie etwas vom Herzen des Menschen wissen und mich nicht für einen ganz gewöhnlichen Menschen halten. Ich werde höchst wahrscheinlich unterrichtet sein, wie Sie leben, so weit man im allgemeinen unterrichtet sein kann, denn ich bin in Berlin, wo ich oft war, nicht ganz Fremdling. Ich kann nun einmal nicht wieder gleichgültig werden, das hätte Madam ehemals glauben und ihre Maßregeln zur Zeit nehmen sollen. Das Schrecklichste würde mir sein, wenn Sie je eine Ehe nach der Mode führen sollten. Ich bitte Sie bei Ihrem Glück und bei dem Rest von meiner Ruhe, noch mehr aber bei dem Glück der Person, die uns teuer sein muß, nie – nie leichtsinnig zu sein. Sie sind Mann; von Ihnen hängt Alles ab. Wenn Wilhelmine je von ihrem Charakter sinken könnte, ich würde den meinigen fürchterlich rächen. Verzeihen Sie und halten das nicht für Impertinenz. Sie müssen Zeiten und Menschen kennen. Furcht gibt Sicherheit. Ich werde mit meinem Willen Ihre Frau nie wieder sehen. Wenn Sie selbst Ihre Pflichten immer erfüllen, so führen Sie ihr immer in einer ernsthaften Stunde mein Andenken wieder zu. Es kann ihr heilsam werden und soll Ihnen nicht schaden. In meiner Seele kann in diesen Verhältnissen nur Liebe oder Verachtung wohnen; ich kenne mich; die erste kann nur mit dem Stufenjahre Freundschaft werden, und der Himmel bewahre Sie und mich vor der zweiten: ihr Vorbote würde schrecklich sein.
Ich kann aus der Seele des Weibes herauslesen, was Madam jetzt über mich oder auch wohl wider mich sagen wird, und ich wünsche aufrichtig, daß sie nie mit Reue an mich zu denken habe. Es ist Ihr eigenes Interesse, mein Herr, dafür mit beständiger Aufmerksamkeit zu sorgen.
Höchst wahrscheinlich kann ich Ihnen nie einen Dienst leisten, so wenig als Sie mir bei meiner Denkungsart. Sollten Sie aber je glauben, daß ich es könnte, so hätte ich in mir Ursache genug, es mit Vergnügen und Eifer zu tun. Ich erwarte weder Antwort noch Dank; sehen Sie nur das, was ich so kalt als möglich sagte, mit meiner Seele oder nur mit gehörigem Gleichmut an, und Sie werden alles sehr natürlich finden.
Ich versichere Sie herzlich meiner völligen Achtung, und es muß Ihnen daran gelegen sein, sie zu verdienen. Leben Sie wohl und glücklich! Auch dieser Wunsch geht ganz von Herzen, ob er gleich mit etwas mehr Wehmut geschieht, als der Mann fühlen sollte.
Grimma.

Seume.