Philosophie und Psychoanalyse 1)

(1912)

 

In einem von edlen Absichten diktierten und mit der Beredsamkeit ehrlicher Überzeugung verfaßten Aufsatz tritt der hochverdiente Professor der Harvard Medical School mit Wärme dafür ein, daß die Psychoanalytik, deren Bedeutsamkeit als psychologische und therapeutische Methode er rückhaltlos anerkennt, in engere Beziehungen zu umfassenderen philosophischen Anschauungen gebracht werde.

Ein großer Teil seiner Ausführungen wird gewiß von allen Analytikern als richtig anerkannt und befolgt werden. Der Psychologe, der sich zur Aufgabe macht, unsere Kenntnis von der menschlichen Seele zu vertiefen, darf sich der Betrachtung jener, von der Menschheit mit Recht hochgeschätzten Systeme, in denen erhabene Geister ihre tiefsten Ansichten über das Wesen und den Sinn der Welt zusammenfaßten, keinesfalls verschließen, und wenn es der Analyse gelungen ist, selbst in den lange Zeit hindurch geringgeschätzten Produktionen der Volksseele: in den Mythen und Märchen, ewige - allerdings symbolisch verkleidete - psychologische Wahrheiten zu entdecken, so darf man sicher hoffen, daß ihr auch aus dem Studium der Philosophie und der Geschichte neue Gesichtspunkte, neue Erkenntnisse erwachsen werden. Auch dem wird kein Psychoanalytiker widersprechen, daß »keine Forschung gut gedeihen kann, ohne daß man ihre naturgemäßen Beziehungen zu anderen Forschungsarten sorgfältig in Betracht zieht«. Die Psychoanalyse ist nicht so unbescheiden, alles mit den eigenen Mitteln erklären zu wollen, und obzwar wir noch weit davon entfernt sind, alles erschöpft zu haben, was analytisch erklärt werden kann, so ahnen wir doch schon, wo etwa die Grenzen unserer Wissenschaft gesteckt sind und wo man die Erklärung der Vorgänge anderen Disziplinen (z. B. der Physik, Chemie und Biologie) wird überlassen müssen.

Auch, »daß wir mehr wissen, als wir ausdrücken können«, daß »das Erlernen nichts anderes ist als eine Entdeckungsreise in die eigene Seele«, daß es die Pflicht der Psychoanalytiker ist, »die Ahnungen und Regungen« (darunter auch die religiösen) »soweit wie möglich, zu entdecken und näher zu prüfen« muß jeder Analytiker, der einmal mit dem Vorbewußten, d. h. mit der produktiven Kambiumschicht der Seele, in der jeder geistige Fortschritt vorbereitet wird, Bekanntschaft machte, vollinhaltlich anerkennen. Überhaupt müßten wir einen nicht unbeträchtlichen Teil der Putnamschen Ausführungen neu abdrucken, wollten wir aus seiner Arbeit alles hervorheben, womit wir uns einverstanden erklären dürfen.  

Immerhin finden sich in diesem, so anregenden und interessanten Aufsatz Bemerkungen, die in mir lebhaften Widerspruch erweckten und über die ich mit meiner gegenteiligen Ansicht nicht zurückhalten will, obzwar mir jede philosophische Schulung abgeht, während Prof. Putnam alle Vorteile eines philosophisch geschulten Geistes für sich hat.

Professor Putnam fordert von den Psychoanalytikern, daß sie ihre neugewonnenen Kenntnisse einer bestimmten philosophischen Weltanschauung unterordnen oder in diese einordnen sollen.  

Ich finde das für die Wissenschaft überhaupt gefährlich, besonders aber für die analytische Psychologie, die noch nicht einmal die Zusammenhänge innerhalb des eigenen Wissensgebietes ordentlich bearbeitet hat. - Die Schonzeit, die man selbst dem Jagdwild für die Zeit der Entwicklung gewährt, sollte man doch auch einer jungen Wissenschaft nicht versagen und eine geraume Weile zuwarten, bevor man mit den Waffen der Metaphysik an sie herantritt. Je länger man die Systembildung hinausschiebt und sich damit begnügt, voraussetzungslos die Tatsachen zu sammeln und deren Zusammenhänge festzustellen, um so mehr Aussicht hat man, Neues und Wahres zu finden. Die allzufrühe Systembildung dagegen versetzt den Forscher in eine für die Realitätsprüfung ungünstige Gemütsverfassung, in der er Gefahr läuft, Tatsachen, die in das System nicht passen wollen, zu mißachten oder geringzuschätzen.  

Es darf auch nicht vergessen werden, daß die Psychoanalyse, wie die Psychologie überhaupt, das Recht hat, ja verpflichtet ist, jede Art seelischer Leistung, die philosophischen Systeme nicht ausgenommen, auf ihre Entstehungsbedingungen zu untersuchen und zu trachten, den sonst im Psychischen herrschenden Gesetzmäßigkeiten auch in ihnen Geltung zu verschaffen, richtiger: die Geltung dieser Gesetzmäßigkeiten auch in ihnen nachzuweisen. Wie aber könnte die Psychologie Gesetzgeberin des Philosophierens sein, wenn ihr zugemutet wird, daß sie sich a priori einem bestimmten oder überhaupt irgend einem philosophischen System unterordne?2)  

Die Wissenschaft ist einem industriellen Unternehmen zu vergleichen, das neue Werte zu schaffen hat; die ›Weltanschauung‹ dagegen ist die allerdings nur sehr rohe Bilanz, die man zeitweise vom Stand unseres Wissens ziehen soll, besonders um zu sehen, wo die nächsten Arbeiten einzusetzen haben. Ein fortwährendes Bilanzmachen würde aber den Geschäftsgang stören und Energien verbrauchen, die besser hätten verwertet werden können.

Die philosophischen Systeme sind wie die Religionen: Kunstwerke, Dichtungen, die gewiß eine Menge großartiger Ahnungen in sich bergen; ihr Wert soll und darf nicht gering geschätzt werden. Aber sie gehören in eine andere Kategorie als die Wissenschaft, unter der wir die Summe jener Gesetzmäßigkeiten verstehen, die wir nach möglichster Reinigung von den Phantasieprodukten des Lustprinzips zurzeit als real bestehend annehmen müssen. Wissenschaft gibt es nur eine, philosophische Systeme und Religionen gibt es aber so viele, als es mit verschiedenen Geistes- und Gemütsrichtungen begabte Menschen gibt.

Es liegt im Interesse beider, verschiedenen Prinzipien gehorchenden Disziplinen, ihre Thesen nicht miteinander zu vermengen. Die Psychologie muß Richterin auch über die Philosophie sein, sie muß sich dafür natürlich gefallen lassen, in toto in die verschiedenen philosophischen Systeme eingeordnet zu werden. Sie bleibe aber auf ihrem eigenen Gebiete souverän und knüpfe ihr Schicksal an keines dieser Systeme.

 

1) Bemerkungen zu einem Aufsatz des H. Professors Dr. Jimes J. Putnam von der Harvard-Universität, Boston, U.S.A.: ›Über die Bedeutung philosophischer Anschauungen und Ausbildung für die weitere Entwicklung der psychoanalytischen Bewegung‹.

2) Daß es nicht unmöglich und auch nicht ganz unfruchtbar ist, die Entstehungsbedingungen der philosophischen Systeme psychologisch zu betrachten, möge hier an einem Beispiel gezeigt werden. Psychoanalytische Untersuchungen an Kranken führten zur Unterscheidung zweier gegensätzlicher Mechanismen der Verdrängung (d. h. der Abwendung der bewußten Aufmerksamkeit vom Unlustvollen). Paranoische Patienten neigen dazu, unlusterzeugende subjektive Seelenvorgänge als Einwirkungen der Außenwelt zu fühlen (Projektion); Neurotiker hingegen fühlen auch Vorgänge der Außenwelt (z. B. solche in anderen Menschen) intensiv mit, sie ›introjizieren‹ einen Teil der Außenwelt, damit sie gewisse Spannungen in ihrer Psyche lindern. Es ist nun merkwürdig, daß es philosophische Systeme gibt, die man mit diesen, doch sicher von Gemütsbedürfnissen abhängigen Mechanismen in Analogie bringen kann. Den Materialismus, der das Ich leugnet und es ganz in der ›Außenwelt‹ aufgehen läßt, kann man als die denkbar vollständigste Projektion auffassen; der Solipsismus, der die ganze Welt leugnet, d. h. sie ins Ich aufnimmt, ist die höchste Stufe der Introjektion. (S. Ferenczi, ›Introjektion und Übertragung‹) - Ders., ›Zur Begriffsbestimmung der Introjektion‹.) Es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, daß sich am Ende ein großer Teil der Metaphysik psychologisch erklären läßt, oder, wie es Freud sagt, sich als Metapsychologie erweisen wird. (S. Freud, ›Zur Psychopathologie des Alltagslebens‹.) Auch auf die zwischen philosophischen und paranoischen Systembildungen zum Teil bestehende Analogie hat Freud hingewiesen. (›Totem und Tabu‹, G. W. IX, S. 91.) Ein anderer Teil mag sich allerdings später als Vorahnung wissenschaftlicher Erkenntnisse entpuppen.

 


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