Die Nacktheit als Schreckmittel

(1919)


Das zufällige Zusammentreffen zweier Beobachtungen, eines Traumes und einer Kindheitserinnerung (jede bei einem anderen Patienten), bringt mich zur Annahme, daß die Nacktheit in der Kinderstube und im Unbewußten als Abschreckungsmittel Verwendung finden kann.  

 

 

I

 

Einer Patientin, deren grande hysterie nach dem unerwarteten Verluste ihres abgöttisch geliebten älteren Knaben wieder auflebte und die sich in ihrem Lebensüberdruß unausgesetzt mit Selbstmordplänen beschäftigte, träumte eines Tages u. a., daß sie vor ihrem jüngeren Knaben steht und zaudert, ob sie sich vor dem kleinen Jungen nackt ausziehen und sich waschen soll. »Tue ich das,« — dachte sie sich, — »so bleibt im Kinde unauslöschlich eine Erinnerung haften, die ihm schaden, ja, es zugrunde richten kann.« Nach einigem Zögern tut sie es aber doch: sie zieht sich vor dem Kind aus und wäscht ihren nackten Körper mit einem Schwamm.

Der mit Anführungszeichen hervorgehobene Gedanke stammt aus dem Wachleben und bezieht sich auf die Selbstmordabsicht; sie weiß, zum Teil auf Grund psychologischer Lektüre, daß ihr Selbstmord auf das Seelenleben des als mutterlose Waise zurückbleibenden Kindes eine verheerende Wirkung ausüben könnte. Andererseits hat sie — besonders seit dem Tod des Ältesten - oft ganz bewußt feinselige Anwandlungen gegen das am Leben befindliche Kind; sie hatte sogar eine Phantasie, in der das traurige Los des Älteren auf den Jüngeren übertragen wurde.

Dieses aktuell bestehende Schwanken zwischen Selbstmordabsicht und Pflichtgefühl, zwischen Liebe und Haß gegen das vom Schicksal begünstigte Kind wird aber im Traum merkwürdigerweise zum Schwanken zwischen der Exhibition und ihrem Gegensatz. Das dazugehörige Material holte die Patientin aus dem eigenen Erleben. Ihren älteren Knaben liebte sie so sehr, daß sie es niemals gestattete, daß er von jemand anderem als von ihr gebadet und gewaschen werde. Natürlich wurde diese Liebe vom Knaben auch erwidert, ja, seine Anhänglichkeit nahm zeitweise ausgesprochen erotische Formen an, so daß die Mutter einmal hierüber einen Arzt zu Rate zu ziehen sich bemüßigt sah. Sie wußte auch damals schon manches von der Psychoanalyse, getraute sich aber nicht, den Fall vor einen Psychoanalytiker zu bringen. Sie hatte Angst vor den Fragestellungen, die sich so hätten ergeben können. (Wir können hinzufügen, daß sie sich unbewußt vielleicht eher vor dem Verzicht fürchtete, den der Analytiker ihrer Zärtlichkeit gegen den Sohn auferlegt hätte.)

Wie kommt aber die Patientin dazu, die Situation derart umzukehren: sich vor dem zweiten Kinde mit dem Schwämme zu waschen, anstatt daß sie den Erstgeborenen wäscht, wie es in Wirklichkeit geschah? Wir können uns den Vorgang dieser Umkehrung folgendermaßen vorstellen: Sie war im Begriff, ihre Liebe auf das lebende Kind zu übertragen, und wollte nun dieses, wie bisher den älteren, waschen. (Das Waschen des Jüngeren war nicht so ausschließlich das Vorrecht der Mutter.) Das hängt mit der Idee zusammen: Weiterleben! Doch sie bringt es noch nicht zustande. Den Jüngeren so zärtlich zu behandeln wie früher den geliebten Toten, kommt ihr wie eine Entweihung vor. Die einmal gefaßte Absicht wird aber im Traume doch durchgeführt, nur nimmt sie an Stelle des Jüngeren - sich selber zum Objekt der Bewunderung und Zärtlichkeit und gönnt dem Kleineren nur die Rolle des Zuschauers -noch dazu in ausgesprochen böswilliger Absicht. Es unterliegt keinem Zweifel, daß hier die Mutter ihre eigene Person mit der des geliebten Verstorbenen identifiziert. Sagte sie doch unzählige Male zu Lebzeiten des Kleinen: »Der ist ganz wie ich«, oder: »Ich und er sind eins.«

Diese überstarke Mutterliebe gab ihr aber Gelegenheit, ihren recht ausgesprochenen infantilen Narzißmus - auf das Kind übertragen - wieder zu besetzen. Zu diesem übertragenen Narzißmus rettete sie sich, weil ihr bei der sexuellen Objektwahl die erwartete Befriedigung versagt blieb. Nun wurde ihm auch das Kind geraubt und der Narzißmus mußte sich in der ursprünglicheren Art manifestieren. Daß er sich gerade in Form der Exhibition äußerte, findet - wie ich vermute - in analogen infantilen Erlebnissen Erklärung.  

Unaufgeklärt blieb hier die Rolle der Exhibition als Straf- und Schreckmittel.  

 

 

II

 

Ein anderer Patient brachte mir noch am selben Tage etwas sehr Ähnliches. Er erzählte folgende Kindheitserinnerung, die auf ihn sehr starken Eindruck gemacht hatte: Die Mutter erzählte ihm als kleinem Kinde, ihr Bruder sei ein ›Muttersöhnchen‹ gewesen; fortwährend sei er seiner Mutter nachgelaufen, wollte ohne sie nicht schlafen gehen usw. Das habe sie ihm nur dadurch abgewöhnt, daß sie sich einmal vor dem Kinde nackt ausgezogen habe, um es von ihrer Person abzuschrecken. Die Maßnahme - so lautete die Moral der Erzählung - haue den gewünschten Erfolg. Das Schreckmittel scheint sogar in der zweiten Generation, nämlich auf meinen Patienten, gewirkt zu haben. Noch heute kann er nur in Ausdrücken tiefster Entrüstung über die Behandlung sprechen, die seinem Onkel zuteil geworden, und ich vermute, daß seine Mutter ihm diese Geschichte gleichfalls in erzieherischer Absicht erzählt hatte.

Nach diesen beiden Beobachtungen muß man sich denn doch die Frage stellen, ob die Nacktheit wirklich ein geeignetes Mittel zum Abschrecken überhaupt oder zum Erschrecken eines Kindes sein kann. Und diese Frage kann bejahend beantwortet werden.

Wir wissen von Freud, daß verdrängte Libido sich in Angst umwandelt. Was wir von Angstzuständen der Kinder bisher erfahren haben, ist in dieser Hinsicht sehr eindeutig: immer handelt es sich um übergroße Libidosteigerungen, gegen die sich das Ich zur Wehr setzt; die vom Ich verdrängte Libido verwandelt sich in Angst und die Angst sucht sich dann sekundär geeignete Objekte (meist Tiere), an die sie sich heften kann. Die Empfindlichkeit des Ich gegen Libidosteigerungen erklärt sich aus den von Freud festgestellten zeitlichen Verhältnissen zwischen der Ichentwicklung und der Entwicklung der Libido. Das noch ungeschickte Ich des Kindes erschrickt vor unerwarteten Libidoquantitäten und vor libidinösen Möglichkeiten, mit denen es noch nichts oder nichts mehr anzufangen weiß.

Es ist möglich, daß das Volksbewußtsein eine Ahnung von diesen Verhältnissen hat, so daß es sich hier nicht um den absonderlichen Einfall einzelner handelt.1) Nachforschungen dürften ein häufigeres Vorkommen von Erziehungs- und Abschreckungsmaßnahmen feststellen, bei denen es sich darum handelt, das Ich durch inadäquate Lihidoarten, bzw. Libidoquantitäten einzuschüchtern.

 

1) Auch im Volksglauben spielt die Nacktheit (respektive Entblößung, besonders einzelner Körperteile: der Genitalien und des Hinteren) als Abschreckungs- und Zaubermittel eine große Rolle.


 © textlog.de 2004 • 19.03.2024 09:13:53 •
Seite zuletzt aktualisiert: 04.01.2005 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright