Freuds Einfluß auf die Medizin

(1933)


Um die Bedeutung eines Einzelnen für die Wissenschaft oder eines ihrer Teilgebiete konstruktiv zu erfassen, wäre es von Wichtigkeit, vorerst den Stand dieser Wissenschaft vor dem Auftauchen jenes Einzelnen, und dann die unter seinem Einfluß stattgehabten Veränderungen darzustellen. Doch selbst eine solche Schilderung wäre kaum imstande, ein tieferes Kausalitätsbedürfnis zufriedenzustellen. Es müßte genau festgelegt werden, ob ein konstruktiver Kopf bloß bereits vorhandenes Material fruchtbringend zusammengefaßt hat, oder ob ein wunderbares geistiges Licht meteorhaft aufblitzend eine ahnungslose, unvorbereitete Welt erhellte. Schließlich drängt sich auch die Frage auf, inwieweit Finderglück und in welchem Ausmaß besondere persönliche Eigenschaften als entscheidende Faktoren bei der Entdeckung einer neuen Wissenschaft und ihrer theoretischen Formulierung mitwirkten. Wurde die Untersuchung bis zu diesem Punkt geführt, erübrigt immer noch die Aufgabe, diese Beiträge durch eine Art Persönlichkeits-Studie zu ergänzen.

Bei der Darstellung von Freuds Einfluß auf die Medizin muß ich mich auf Bemerkungen über diese Probleme beschränken, vor allem jedoch die Begleitumstände auseinandersetzen. Ein Zufall war es zweifellos, daß der verdiente Wiener Arzt Dr. Josef Breuer eine intelligente Patientin in hypnotischer Behandlung hatte, der die günstige Wirkung auffiel, die das Aussprechen ihrer Phantasien auf ihren Zustand hervorrief, und die die Aufmerksamkeit ihres Arztes auf diese Beobachtung lenkte. Buchstäblich genommen ist sie die Entdeckerin der ursprünglichen kathartischen Methode. Ein Zufall war es ferner, der später Sigmund Freud in persönliche Berührung mit Breuer brachte. Sicherlich jedoch geschah es keineswegs zufällig, daß Breuer, trotz tiefer Einsicht in die psychologische und pathologische Tragweite dieser Entdeckung, sein Interesse bald von diesen Problemen abwendete und sich Freud und dessen weiteren Studien nicht mehr verband. Es ist kein Geheimnis mehr, welchen Eigenschaften Freud seine Ausdauer und seine Erfolge in der wissenschaftlichen Entwicklung der Psychoanalyse zu danken hat. Da ist vor allem seine Objektivität, die selbst angesichts der sich entrollenden Sexualprobleme unerschüttert blieb. So seltsam dies klingt, ist es doch Tatsache, daß vor Freud selbst Forscher, die sich für vorurteilsfrei hielten, in sexuellen Dingen von moralischen Skrupeln nicht frei waren und die psychologische Seite des Liebeslebens nicht berührten.  

Bloß zwei mutige Männer wagten es, die abstoßenden Eigentümlichkeiten des Sexuallebens zum Gegenstand ausführlicher Studien zu machen: der Wiener Krafft-Ebing und der Engländer Havelock Ellis, deren Beispiel bald einige deutsche und Schweizer Forscher folgten. Die ersten Versuche Freuds, Breuers Entdeckung zu erklären, führten bald zur Untersuchung sexueller Probleme. Die Freunde und Kollegen, die seine Begabung nur so lange anerkannten, als er sich mit harmlosen und durchaus moralischen Gegenständen, wie Aphasie und zerebraler Kinderlähmung befaßte, verließen ihn eilig. Selbst Breuer gesellte sich bald zu jenen, die Freud bei seinem Studium so unästhetischer, daher unerfreulicher Dinge nicht folgen wollten, und Freud stand nunmehr ganz allein. Damit beginnt jene Periode seines Lebens, die verdient, die heroische genannt zu werden, und in der die Traumdeutung entstand, die bleibende Grundlage seines gesamten späteren Schaffens. Heute, mehr als dreißig Jahre nach ihrem ersten Erscheinen, sehen wir immer noch die ablehnende Haltung der übrigen Welt, die sicherlich auf die Tatsache hinweist, daß die Psychoanalyse den Anforderungen der wissenschaftlichen und medizinischen Welt nicht entsprach.  

Ein weiterer Charakterzug, der Freud zum Entdecker der Psychoanalyse prädestinierte, war seine unerbittliche Kritik des therapeutischen Könnens und des theoretischen Wissens jener Zeit, das in der Behandlung der Neurosen völlig versagte. Zu einer Zeit, als, fast wie heutzutage, die faradische und galvanische Apparatur als Hauptausrüstung des Arztes galt, der sich mit den sogenannten funktioneilen Erkrankungen beschäftigte, kam er zur Überzeugung, daß die Elektrotherapie den Neurosen nicht beikommen könne und ein völlig nutzloses Verfahren für deren Behandlung darstelle. Die Vergänglichkeit und Unzulänglichkeit der durch hypnotischen und suggestiven Einfluß gelegentlich erzielten Erfolge bewog Freud, diese Methoden aufzugeben. Es wäre ihm, insbesondere in der medizinischen Atmosphäre, in der er aufwachs, ein leichtes gewesen, sich der bequemen Idee des medizinischen Nihilismus zu verschreiben und sorgenlos seine rasch wachsende Praxis zu versehen.  

Doch ein spezifischer Zug seines Wesens, der einen heftigen Wahrheitsdrang in sich schloß und ihm nicht gestattete, sich mit der bloßen Kritik des herrschenden Zustandes der Dinge zu begnügen, ließ ihm keine Ruhe, ehe sein forschender Geist ganz allein und ohne Hilfe von außen her die nun einmal aufgeworfenen Fragen gelöst hatte. Dieser Aufgabe schienen sich fast unübersteigliche Hindernisse entgegenzutürmen, denn es hieß eine Gleichung mit vielen Unbekannten lösen. Wie Breuer und Freud bereits erkannt hatten, war anzunehmen, daß die Ursachen der neurotischen Symptome im unbewußten Seelenleben lagen, das direkter Untersuchung nicht zugänglich erscheint. Wie bereits erwähnt, ließ Freud die Methoden der Hypnose und Suggestion, die einen teilweisen Zugang zum Unbewußten eröffnet hätten, absichtlich unangewendet, denn er nahm an, daß den Normen der damaligen psychologischen Erkenntnis gemäß die Wirksamkeit dieser Methoden unerklärlich, ja mystisch erscheinen mußte. Vermittels deren Anwendung gewonnene Erkenntnisse hätten den Stempel des Mystischen getragen und der wissenschaftlichen Forderung nach Klarheit nicht Rechnung getragen. Dennoch gelang ihm das Unwahrscheinliche: jene als unergründlich geltenden Regionen erschlossen sich seiner Methode der freien Assoziation.  

Es ist nicht leicht, den Begriff Genie zu definieren, doch glaube ich, daß diese Bezeichnung angemessen ist für einen, der in einer so hoffnungslosen Lage wie der oben geschilderten einen Ausweg zu finden weiß. Ich stehe nicht an zu behaupten, daß dieser Gedanke Freuds die Zukunft der Psychologie und ihrer gesamten Anwendungen bestimmte, und es erscheint mir keine Übertreibung, alle ferneren Entwicklungen in diesen Wissenschaften auf diesen in Freuds Kopf entstandenen Gedanken zurückzuführen. In dem Augenblick, da Freuds Königsgedanke ans Licht trat, wurde die moderne Psychologie geboren.  


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