Freuds ›Massenpsychologie und Ich-Analyse‹
Der individualpsychologische Fortschritt
(1922)
Die Entwicklung der Wissenschaften im großen überblickend, kommt man immer wieder zur Überzeugung, daß hier der geradlinige Fortschritt gewöhnlich bald an einem toten Punkt anlangt, so daß die Arbeit von einer anderen, oft ganz unerwarteten und unwahrscheinlichen Seite her mit Erfolg fortzusetzen ist. Ich war bereits einmal in der Lage, auf eine solche wohl jeden überraschende Tatsache hinzuweisen, indem ich Freuds ›Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie‹, eine rein psychologische Untersuchung, als bedeutsamen Fortschritt der Biologie, also einer naturwissenschaftlichen Disziplin, die diesen Fortschritt aus eigenen Mitteln niemals bestritten hätte, würdigen mußte.
Dieser ›Utraquismus‹ einer richtigen Wissenschaftspolitik, wie ich ihn nennen möchte, bewährt sich aber nicht nur in der großen Alternative der objektiven (naturwissenschaftlichen) und der subjektiven (psychologischen) Erkenntniswege, sondern auch innerhalb der Psychologie selbst. Kaum hatten wir uns bei der Annahme beruhigt, daß individualpsychologische, psychoanalytische Tatsachen die Grundlage sind, deren Anwendung« die komplexeren Erscheinungen der Massenpsyche (Kunst, Religion, Mythenbildung usw.) enträtseln wird, und schon erschüttert das neuerschienene Werk Freuds über ›Massenpsychologie‹ die Sicherheit dieser Annahme: es zeigt uns im Gegenteil, daß die Untersuchung massenpsychologischer Vorgänge wichtige Probleme der individuellen Psychologie lösen kann. Ich will im folgenden die wichtigsten Fortschritte hervorheben, die die normale und pathologische Psychologie des Individuums dieser Zergliederung der Massenseele durch Freud verdankt.
Der Verfasser beseitigt die sonst von allen Autoren mechanisch übernommene Idee, daß Massenerscheinungen nur in einer ›Menge‹, also im Kreis einer großen Zahl von Einzelwesen vorkommen. Er stellt vielmehr fest, daß dieselben Erscheinungen des Affektlebens und des Intellekts auch innerhalb einer kleinen Anzahl von Personen, z.B. in der Familie, ja auch im Verhältnis zu einer einzigen Person in der ›Massenbildung zu zweien‹ sich manifestieren können. Dieser Gesichtspunkt gestattet es, unsere Ansicht über einen der merkwürdigsten und für die individuelle Psychologie bedeutsamsten Vorgänge, über die Hypnose und die Suggestion, von Grund aus zu ändern.
Während die früheren Autoren die Massenerscheinungen mit der Suggestion erklären wollten, ohne angeben zu können, worin das Wesen der letzteren bestehe, fand Freud, daß es eigentlich die Massenerscheinungen sind, deren historische Entwicklung zur Erklärung auch des zwischen zwei Individuen ablaufenden Prozesses der Suggestion herangezogen werden muß. Die Quelle der Disposition zur Hypnose läßt sich nach Freud bis in die Urzeit des Menschengeschlechts, bis zur Menschenhorde zuriickverfolgen, in der das Auge des gefürchteten Hordenvaters, des Herrn über Leben und Tod aller, noch tatsächlich für alle Mitglieder der Horde zeitlebens dieselbe lähmende Wirkung, dieselbe Einschränkung jeder selbständigen Aktivität, jeder eigenen intellektuellen Regung bewirkte, wie sie der Blick des Hypnotiseurs auch heute noch bei seinen ›Medien« produziert. Der Furcht vor diesem Blick ist also die hypnotisierende Kraft zuzuschreiben, während die übrigen Methoden zur Erzeugung der Hypnose (monotones Geräusch, Fixierung des Auges auf einen Punkt) nur die bewußte Aufmerksamkeit des Einzuschläfernden ablenken sollen, um sein Unbewußtes um so sicherer unter die Macht des Hypnotiseurs zu beugen.
Entgegen der von uns bisher bevorzugten Bernheimschen Annahme, wonach die Hypnose nur eine Form der Suggestion ist, müssen wir nun mit Freud annehmen, daß die Hypnotisierbarkeit das Grundphänomen ist, das uns die Suggestibilität erklären soll; die Hypnotisierbarkeit selbst aber bedeutet nicht nur, wie wir es uns bisher dachten, einen Rest der kindlichen Angst vor dem strengen Vater, sondern auch die Wiederkehr von Emotionen, die im Menschen der Urhordenzeit angesichts des gefährlichen Hordenführers sich abspielten. Die massenpsychologische Untersuchung gibt uns also die phylogenetische Parallele zur Ontogenese der Hypnotisierbarkeit. Wenn wir (die zentrale Stellung der Suggestions- und Hypnosenfrage in der Pathologie und Therapie der Neurosen, in der Pädagogik usw. berücksichtigen, wird uns sofort klar, daß die gründliche Revision unserer bisherigen Ansichten hierüber ihre Wirkung in der ganzen normalen und pathologischen Psychologie fühlbar machen wird.
Die zweite wesentliche Neuigkeit, die die individuelle Psychoanalyse diesen massenpsydiologischen Forschungen verdankt, ist die Entdeckung einer neuen Entwicklungsstufe des Ichs und der Libido. Die Übertragungsneurosen, diese Ausgangspunkte jeder psychoanalytischen Forschung und lange Zeit hindurch deren einziger Gegenstand, verschafften bekanntlich Freud die Möglichkeit, die Entwicklungsphasen des Sexualtriebes nahezu lückenlos zu rekonstruieren. Der zweite Faktor bei der Neurosenbildung, das Ich, blieb aber nach wie vor eine weiter nicht zerlegbare, kompakte Masse, über deren Struktur man sich nur höchst hypothetische Vorstellungen machen konnte. Einiges Licht in dieses Dunkel brachte allerdings das Studium der narzißtischen Neuropsychosen und des Liebeslebens der Normalen, aber eine wirkliche ›Stufe‹ im Ich vermochte Freud erst auf Grund dieser massenpsychologischen Untersuchung festzustellen. Diese höhere Ichstufe, die den ursprünglichen Narzißmus des Kindes und der Menschheit ablöste, ist die Sonderung eines primär-narzißtisch bleibenden Ichs von einem ›Ichideal‹, dem Vorbild, das man in seinem Innern aufrichtet, um daran alle seine Handlungen und Eigenschaften zu messen. Dieses Ichideal übernimmt die wichtigen Funktionen der Realitätsprüfung, des moralischen Gewissens, der Selbstbeobachtung und der Traumzensur; es ist auch die Macht, die bei der Schaffung des für die Neurosenbildung so bedeutsamen ›Unbewußt-Verdrängten‹ am Werke ist.
Der Entstehung dieser Ichentwicklungsstufe läuft ein eigener libidinöser Prozeß parallel, der nunmehr als besondere Entwicklungsphase zwischen Narzißmus und Objektliebe (richtiger: zwischen die noch stark narzißtischen oralen und sadistisch-analen Organisationsstufen und die eigentliche Objektliebe) einzuschalten ist, nämlich die Identifizierung. Bei diesem Vorgang werden Objekte der Außenwelt nicht wie in der kannibalistischen Phase wirklich, sondern nur mehr imaginär ›einverleibt oder, wie wir es zu sagen pflegen, introjiziert, d. h. ihre Eigenschaften werden annektiert, dem eigenen Ich zugeschrieben. Wenn man sich so mit einem Objekt (Person) identifiziert, schafft man gleichsam die Brücke zwischen Ich und Außenwelt, und diese Verbindung gestattet dann später das Verlegen des Akzentes vom intransitiven ›Sein‹ aufs transitive ›Haben‹, d. h. die Weiterentwicklung von der Identifizierung zur eigentlichen Objektliebe. Das Fixiertwerden an dieses Identifizierungsstadium ermöglicht es aber, daß von jeder späteren Phase der Objektliebe auf die Stufe der Identifizierung regrediert werden kann; am auffälligsten geschieht dies bei gewissen pathologischen Prozessen, nicht minder deutlich aber bei den bisher unverstandenen Produktionen der Massenpsyche. Selbstverständlich eröffnet die Hypostasierung dieser neuen Stufe der Ich- und der Libidoentwicklung eine weite Perspektive; sie wird gewiß viele noch ungenügend erhellte Erscheinungen der individuellen Psychologie und Psychopathologie unserem Verständnis näherbringen.
Obzwar sich Freud in seiner massenpsychologischen Arbeit vor allem mit der Dynamik der Massenpsyche beschäftigte, konnte er doch nicht umhin, auch an einzelnen Kapiteln der Neurosenlehre, die er bei früheren Untersuchungen unvollendet ließ, weiterzubauen. Aus der Fülle des Gebotenen will ich nur einiges zum Beispiel hervorheben.
Von der Homosexualität des Mannes konnte bereits die bisherige klinisch-analytische Untersuchung feststellen, daß sie meist als Reaktion auf eine vorgängige überstarke heterosexuelle Strömung auftritt. Nun erfahren wir aber von Freud, daß diese Reaktion gleichfalls auf dem Wege der Regression von der Objektliebe zur Identifizierung vor sich geht. Das Weib als äußeres Liebesobjekt wird aufgelassen, dafür im Ich selbst mittels Identifizierung wieder aufgerichtet, an Stelle des Ichideals gesetzt; der Mann wird also feminin und sucht sich eventuell einen anderen Mann, damit das ursprüngliche heterosexuelle Verhältnis, wenn auch in der Umkehrung, wiederhergestellt wird.
Einen Einblick in die Pathogenese der Paranoia gestattet uns die Lehre von der libidinösen Natur der sozialen Bindung zum Führer und zu den Mitmenschen. Nun wird uns erst recht verständlich, warum so viele Menschen infolge sozialer Kränkung an Paranoia erkranken. Die bisher sozial gebundene Libido wird infolge der Kränkung frei und möchte sich grobsexuell, meist homosexuell ausleben, diese Äußerungsform wird aber von dem sehr anspruchsvollen Ichideal abgewiesen und aus diesem scharfen Konflikt der Ausweg in die Paranoia gefunden. Die frühere soziale Bindung äußert sich immer noch als Verfolgtwerden durch kompakte Massen, Gemeinschaften und Verbindungen (Jesuiten, Freimaurer, Juden usw.). So erweist sich also die Paranoia als Störung nicht nur der (homosexuellen) Vaterbindung, sondern auch der (an sich geschlechtslosen) sozialen ›Identifizierung‹.
Der schon früher bearbeiteten Metapsychologie der Melancholie erwächst aus der Lösung des massenpsychologischen Problems eine neue Stütze; auch diese Psychose erweist sich als Folge der Einsetzung des äußerlich aufgegebenen, weil gehaßten Objektes an Stelle des Ichideals; die manische Phase der Zyklothymie1 aber entpuppt sich als zeitweilige Auflehnung des primär-narzißtischen Ichrestes gegen die Tyrannei des Ichideals. Wir sehen, die Verwertung der neuen Ichstufe und Libidophase in der Psychiatrie nimmt einen verheißungsvollen Anfang.
Die hysterische Identifizierung unterscheidet sich von der besprochenen unter anderem dadurch, daß hier die (unbewußte) Einverleibung des Objektes nur eine partielle ist, sich auf gewisse Eigenschaften desselben bezieht.
Wichtige Kapitel des normalen Liebeslebens müssen auf Grund der neuen Einsichten revidiert werden. Die Unterscheidung direkter und zielgehemmter (zärtlicher) Sexualstrebungen erweist sich in dieser Untersuchung noch bedeutsamer, als man sie schon vordem vermutete; natürlich gewinnt dadurch auch die Latenzzeit, die diese Zielhemmung bewerkstelligt, erhöhte Bedeutung.
Die gerechte Würdigung der zielgehemmten Sexualregungen nötigte Freud zu einer neuen Fassung der Dynamik der neurotischen Erkrankung; der neurotische Konflikt spielt sich nach der neueren Beschreibung zwischen den vom Ichideal geforderten zielgehemmten (ichgerechten) und den direkten (ichwidrigen) Sexualstrebungen ab. Auch die Libidobesetzungsvorgänge bei der Verliebtheit erscheinen seit der massenpsychologischen Untersuchung vielfach in neuem Licht, das Schamgefühl wird sogar als Ausfluß eines massenpsychologischen Phänomens, als Reaktion auf die Störung der stets asozialen heterosexuellen Triebäußerung durch die Öffentlichkeit, verständlich gemacht.
Zum Ausgangspunkt dieser Besprechung zurückkehrend, müssen wir schließlich nochmals auf die bei jeder Psychotherapie wirksamen massenpsychologischen Momente hinweisen, die das Studium dieser Arbeit Freuds für jeden, der kranke Seelen behandeln will, unerläßlich macht. Ist doch der Arzt bei der Krankenbehandlung der Vertreter der ganzen menschlichen Gesellschaft, er kann, wie der katholische Geistliche, lösen oder binden; ihm zuliebe lernt der Kranke sein früheres ›Gewissen‹, das ihn krank machte, außer Tätigkeit zu setzen; auf seine Autorität hin gestattet er sich, die Verdrängungen aufzuheben. Es sind also nicht zuletzt die Ärzte, die dem Autor dieses Werkes Dank und Bewunderung zollen müssen. Fand er doch in gewissen massenpsychologischen Prozessen die Erklärung für die Wirksamkeit psychotherapeutischer Maßnahmen überhaupt, wodurch ihnen die Wirkungsweise ihres täglich gebrauchten Werkzeuges erst verständlich wurde.
1 [Manisch-depressives Irresein.]