Status und Ausbreitung der Psychoanalyse


Der Einfluß der Psychoanalyse wurde von den verschiedenen Zweiggebieten der Medizin und der Geisteswissenschaften passiv aufgesaugt, doch ist die Internationale Gesellschaft aktiv an der Arbeit, die Freudschen Ideen in die Breite und Tiefe zu entwickeln. Gleichzeitig bewahrt sie die Analyse vor Verfälschungen und Mißdeutungen. Auf dem Nürnberger Kongreß 1908 wurde die Internationale Psychoanalytische Vereinigung gegründet, die in allen Kulturzentren Zweiggesellschaften hat. Die offiziellen Organe dieser Organisation sind die Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, die Imago und The International Journal of Psycho-Analysis, London. In Berlin und Wien bestehen Kliniken und Lehrinstitute für Theorie und Praxis der Freudschen Psychotherapie, in London, Budapest und New York sind Institute gleicher Art in Gründung begriffen.

Separatistische Bestrebungen, wie sie im Gefolge aller großen Ideen auftreten, haben auch die Psychoanalyse nicht unberührt gelassen, doch ist es hier nicht am Platze, näher auf sie einzugehen. Es genüge die Feststellung, daß der Einfluß der einzelnen Schismatiker im Vergleich zu dem Freuds geringfügig ist. Es wäre unfair, ihre Namen mit dem seinen zusammen zu nennen, wie das in so vielen wissenschaftlichen Publikationen häufig geschieht. Die ganze Angelegenheit bringt mir den satirischen Ausspruch des originellen und gedankenreichen Wiener Pathologen Samuel Stricker in Erinnerung, der die Mitteilung seiner eigenen Entdeckungen durch die Bemerkung ergänzte: »Doch nun wollen wir uns dem Herrn Abänderer zuwenden.« Was übrigens nicht besagen will, daß in ihren Arbeiten nichts von Wert oder Interesse enthalten sei.

Alle ausschließlich der Psychoanalyse gewidmeten Einrichtungen verdanken ihre Entstehung privater Initiative und hatten gelegentlich die Gleichgültigkeit, ja Feindseligkeit offizieller Gruppen zu bekämpfen. Überall waren die Universitäten in ihrer Haltung am konservativsten. Nichts kennzeichnet diese Tatsache deutlicher als der Umstand, daß man an den Begründer der Psychoanalyse nie wegen Abhaltung eines offiziellen Lehrkurses herantrat, wiewohl ihm für seine Verdienste der Titel eines Professors verliehen worden war.

Göttliche Eingebung war es, die Freud bewog, seiner Traumdeutung den prophetischen Satz Flectere si nequeo superos, Acheronta movebo voranzustellen. Damit wollte er die wissenschaftliche Tatsache kennzeichnen, daß die wichtigsten Probleme des Menschengeistes nur von den Tiefen des Unbewußten her angegangen werden können. Doch kann das Motto auch in anderem Sinne gedeutet werden. Die Festungen der Wissenschaft setzen auch heute noch dem Eindringen eines psychoanalytischen Lehrkurses Widerstand entgegen. Es wird noch eine Weile dauern, ehe das Anpochen der medizinischen Welt, das immer stärker ertönt, an den Pforten der Universitäten, zu denen es nur wie ein Grollen aus der Tiefe dringt, vernommen werden wird. Dann erst wird die Psychoanalyse den ihr gebührenden Platz im Studiengang einnehmen.

Vielleicht wird dieser Tag früher kommen als wir glauben. Geringer Prophetengabe bedarf es, vorauszusehen, daß einst zahlreiche Vorlesungen für die frühere Ächtung entschädigen werden. Die Nachfolger der zeitgenössischen Professoren werden der tatsächlichen Bedeutung Freuds Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ich muß feststellen, daß bis zu Freuds Auftreten die Medizin als reine Naturwissenschaft gelehrt wurde. Man besuchte eine technische Gesundheitshochschule, von der man mit viel theoretischem und praktischem Wissen als Doktor abging, ohne jedoch irgend etwas von der menschlichen Seele zu erfahren. Draußen hingegen in der Welt der medizinischen Praxis ist der psychologische Faktor für die Therapie ebenso wichtig wie der objektive Organbefund. Wieviel Mühe und Kummer wäre vermieden worden, hätte man mir in meiner Studienzeit die Kunst beigebracht, mit Übertragung und Widerstand umzugehen. Ich beneide den Mediziner der nächsten Zeit, der das lernen wird. Die Humanisierung des Universitäts-Lehrganges wird zur unbedingten Notwendigkeit werden und sich schließlich durchsetzen.

Eine besondere Schwierigkeit beim Erlernen der Psychoanalyse bildet der Umstand, daß deren Methode, wie bereits erwähnt, dualistisch oder utraquistisch ist. Genaue Beobachtung der objektiven Haltung des Patienten, einschließlich des von ihm Mitgeteilten, des sogenannten ›Ver-haltens‹ (behaviour) reicht nicht aus. Die Psychoanalyse fordert vom Arzt unermüdliche Empfänglichkeit für alle Ideenverbindungen, Gefühle und unbewußten Vorgänge im Innern des Patienten. Um dieser Forderung zu genügen, muß er selbst eine biegsame, plastische Seele besitzen, was nur erreicht werden kann, wenn er selbst analysiert ist. Wie der künftige Mediziner diese vertiefte Selbsterkenntnis erlangen soll, ist eine schwer zu beantwortende Frage. Die Ausbildung eines psychoanalytischen Spezialisten erfordert, abgesehen vom Studium der Theorie, eine Lehranalyse von zumindest einjähriger Dauer. Soviel ist von einem praktischen Arzt nicht zu verlangen, doch kann man ihm diesen manchmal schmerzhaften Vorgang nicht zur Gänze ersparen. Es ist eine alte wohlbekannte Erfahrung, daß zuckerkranke Ärzte die diabetischen Patienten besonders feinfühlig behandeln, und das gleiche gilt für den tuberkulösen Arzt. Der Wiener Internist Oser, der über Pathologie des Magens las, erzählte uns, daß ihn der Gegenstand seiner eigenen gastrischen Beschwerden wegen feßle. Wir können selbstverständlich vom zukünftigen Arzt nicht verlangen, daß er alle möglichen ansteckenden Krankheiten akquiriere, um an diesen Leiden Erkrankte besser verstehen und heilen zu können. Dennoch fordert die Psychoanalyse etwas dieser Art, wenn sie vom Arzt seelisches Einfühlungsvermögen in die Abnormitäten des Patienten erwartet. Der Unterschied zwischen dieser und der eben berührten Situation liegt indes in der Tatsache, daß gemäß den Feststellungen der Psychoanalyse jeder von uns aus seinem eigenen Unbewußten die Fähigkeit zu solchem Verständnis zu schöpfen vermag. Wir brauchen nur den erworbenen Widerstand gegen diese unbewußte Kraft wegzuräumen, um sie bewußt und so für das Verstehen des Patienten dienstbar zu machen. Ich bin überzeugt, daß Bemühungen nach dieser Richtung sich reichlich lohnen werden. Wissenschaftlich fundierte Kenntnis der Menschheit wird dem praktischen Arzt dazu verhelfen, die Autorität, die er als Berater des Einzelnen, der Familie, der Gesellschaft einbüßte, wiederzugewinnen, wenn diese sich in gefährlichen Lagen befinden. Ich hoffe, daß es unvergessen bleiben wird, wessen Lebenswerk seine Stellung und Würde wieder gehoben hat.

Noch ein paar Worte über die geographische Ausbreitung der Psychoanalyse oder, wie Herr Hoche sie genannt hat, der psychoanalytischen Pest. Völliges Mißverstehen der wesentlichen Grundzüge der Psychoanalyse bewog ein paar besonders bösartige Gegner Freuds zur Behauptung, daß die Psychoanalyse oder, wie sie sie nannten, die sexuelle Psychoanalyse, nur in der leichtfertigen liederlichen Wiener Atmosphäre entstehen konnte. In einem angelsächsischen Land wurde die Bemerkung geprägt, daß »man solche Dinge vielleicht in der österreichischen Hauptstadt träume, unsere Träume seien ehrbarer Art«. Die Psychoanalyse bezeichnet die Verdrängung libidinöser Neigungen als Ursache der Neurosen. Daher müßte, wenn Freuds Gegner recht hätten, eine solche Lehre in einem Land entstanden sein, wo Prüderie und Verdrängung zu Hause sind. In Wirklichkeit jedoch waren Länder, die sich nicht durch besondere Prüderie auszeichnen, ungeeignet zur Anerkennung der Psychoanalyse. Frankreich, Österreich und Italien sind Länder, in denen die Analyse auf stärkste Ablehnung stieß, während England und Amerika, Länder mit besonders strenger Geschlechtsmoral, sich viel aufnahmewilliger zeigten. Deutschland nimmt eine Zwischenstellung ein; nach heftiger Gegnerschaft beugte es sich dem Druck der Tatsachen.

Abschließend möchte ich hervorheben, daß Freud die scharfe Demarkationslinie zwischen Natur- und Geisteswissenschaft niedergerissen hat. Die Psychoanalyse hat nicht nur das gegenseitige Verständnis zwischen Arzt und Patient gefördert, sondern auch Natur- und Geisteswissenschaften, die sich fremd gegenüberstanden, einander nähergebracht. Um dieses Ziel zu erreichen, mußte Freud auf jene Selbstzufriedenheit verzichten, die den Arzt von einst kennzeichnete. Er fing an, sich den Ausspruch Schweningers, daß jeder Mensch Arzt und jeder Arzt Mensch sein müsse, zu eigen zu machen.

Freuds Einfluß auf die Medizin bedeutet eine formale Änderung, eine durchgreifende Anregung für die Entwicklung dieser Wissenschaft. Die Möglichkeit einer solchen Entwicklung mag vorher bestanden haben, zur tatsächlichen Durchführung bedurfte es des Erscheinens einer Persönlichkeit von Freuds Bedeutung.


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