Die Metapsychologie


Es erwies sich nunmehr als notwendig, das ungeheure Material, das die neue Methode angesammelt hatte, zu sichten und wissenschaftlich zu ordnen. Wohl oder übel mußte Freud bald darangehen, skelettartige Umrisse seiner Theorie zu formulieren, ein Gerüst, das, wiewohl seither öfters verändert und umgebaut, doch in seinen Pfeilern bis zum heutigen Tage standgehalten hat. Dieser Bau ist die sogenannte Metapsychologie. Ich werde versuchen, kurz zu erklären, was wir darunter verstehen. Freud konnte den Ursprung neurotischer Symptome nicht aufklären, ohne psychische Tätigkeiten innerhalb eines Raumsystems vorauszusetzen, wo Kräfte von bestimmter Intensität und Qualität aufeinander einwirken. Die erste topische Unterscheidung der psychischen Funktionen war die Abtrennung des Bewußten vom Unbewußten, die erste Vorstellung der Dynamik die Annahme eines Konflikts der Kräfte innerhalb dieser Gebiete. Das Ergebnis dieses Konflikts war vom Verhältnis der Kräfte abhängig, doch mußte die Summe der beiden psychischen Kräfte als stets gleichbleibend angenommen werden. Die Tatsache, daß die Uneingeweihten diese Konstruktion als phantastisch bezeichnen, braucht uns nicht zu erschrecken. Wer will, mag sie eine wissenschaftliche Phantasie nennen. Doch ist jedwede wissenschaftliche Theorie eine Phantasie und als solche so lange brauchbar, als sie praktisch ihren Zweck erfüllt und den Erfahrungstatsachen nicht widerstreitet, was bei Freuds Metapsychologie durchaus der Fall ist. Sie versetzt uns in die Lage, die Störungen im Seelenleben eines Patienten als Ergebnis solcher und ähnlicher Konflikte aufzufassen, ja gibt uns die Möglichkeit, auf eine richtige Kräfteverteilung hinzuwirken. Freuds spätere Arbeiten setzten an die Stelle dieses überaus einfachen Systems ein viel verwickelteres. Es gelang ihm, die treibende Kraft hinter dem Seelenleben bis zu ihrem biologischen Ursprung zu verfolgen und ihre Gleichartigkeit mit der physikalischen Triebkraft festzustellen. Praktische Erwägungen beiseite lassend, ließ er sich weder dazu verführen, die sich hierin offenbarende Vielfältigkeit zu verleugnen, noch konnte ihn die Illusion eines vorzeitigen Vereinheitlichungs-Systems dahin bringen, seine Ideen aufzugeben, die Lücken aufwiesen, ihn nicht ganz befriedigten und dennoch mit der Wirklichkeit in Einklang standen.  

Ich zögere nicht zu behaupten, daß diese Konstruktion an sich von höchster wissenschaftlicher Bedeutung ist. Sie bedeutet nicht mehr und nicht weniger als den ersten Versuch, ein Problem, das die Physik und Physiologie psychischer Erscheinungen betrifft, zu lösen. Das einzige Mittel zu diesem Zweck war das Eindringen psychoanalytischer Forschung in das Seelenleben des kranken und gesunden Menschen. Bis dahin hatten weder die Anatomie noch die Physiologie zur Erkenntnis der feineren Seelenregungen irgendwelche Beiträge geleistet. Die wissenschaftliche Medizin starrte wie hypnotisiert ins Mikroskop und erwartete aus Mitteilungen über die Entwicklung und den Verlauf der Nervenstränge Aufschlüsse über das Wie der Seelenvorgänge. Doch konnten diese Entwicklungen nur die einfachsten Tatsachen der Bewegungs- und Sinnesfunktionen aufzeigen. Da sich bei keiner Neurose oder funktionellen Psychose Veränderungen im Gehirn nachweisen ließen, schwebte die medizinische Wissenschaft im unklaren, welche Bewandtnis es mit diesen pathologischen Bedingungen habe. Der Irrtum war darauf zurückzuführen, daß die Ärzte vor Freuds Zeit einseitig und materialistisch eingestellt waren. Die einleuchtenden psychischen Tatsachen, die in unserem Leben wie in dem unserer Patienten eine so wichtige Rolle spielen, galten als Realitäten von geringfügiger Bedeutung, mit denen sich kein ernster Mann der Wissenschaft befassen konnte. Die eigentliche Psychologie war ein Gebiet, von dem man sich fernhielt, das man den Dilettanten und Literaten überließ. Schon die Scheu vor unfundierten Verallgemeinerungen bewahrte Freud vor dem Irrtum, das Psychische und das Physische in einem materialistischen Monismus vorschnell zu vereinen. Seine intellektuelle Redlichkeit führte ihn zur Erkenntnis der Tatsache, daß das Seelenleben nur von der subjektiven Seite her durch introspektive Methoden zugänglich sei, und weiterhin zu der Feststellung, daß die psychische Realität der durch diese subjektiven Methoden erkannten Tatsachen unbezweifelbar sei. So wurde Freud zum Dualisten, eine Bezeichnung, die die meisten Naturwissenschaftler damals und noch heute als fast schimpflich ansehen. Ich glaube nicht, daß Freud gegen die monistische Wissensauffassung Einwendungen hat. Sein Dualismus sagt bloß aus, daß diese Vereinheitlichung weder gegenwärtig noch in naher Zukunft möglich, vielleicht niemals vollständig durchführbar sein wird. Auf keinen Fall darf Freuds Dualismus mit der naiven Scheidung des lebenden Organismus in Leib und Seele verwechselt werden. Er behält die auf das Nervensystem bezüglichen anatomischphysiologischen Tatsachen stets im Auge. Er verfolgt seine psychologischen Forschungen bis zu den menschlichen Trieben, die er als Grenzlinie zwischen dem Psychischen und Physischen betrachtet; eine Grenze, die seiner Meinung nach die psychologische Forschung nicht überschreiten solle, da sie dazu nicht zu taugen scheine. Andererseits kann er, wie sein nach dem Muster des Reflexbogens konstruiertes metapsychologisches System zeigt, auch bei seinen rein psychologischen Untersuchungen der naturwissenschaftlichen Analogien nicht entraten. Seinen speziellen Dualismus zu bezeichnen muß ich ein neues Wort, Utraquismus, prägen und glaube, daß diese Methode der Untersuchung natur- wie geisteswissenschaftlicher Fragen eine große Verbreitung verdient.

Eine der bemerkenswertesten Errungenschaften der Freudschen Psychologie ist es, daß er nicht bloß den Inhalt, d. h. das Wörterbuch des Unbewußten niederschreibt, sondern auch die Regeln der eigenartigen Grammatik und primitiven Logik, die in diesem Reiche herrschen, formuliert, so daß die seltsamen Bildungen des Traumes, die Fehlleistungen des Alltagslebens wie die neurotischen und psychotischen Symptome bedeutungsvoll und verständlich werden. Man wird zugeben müssen, daß ein Arzt, der die Sprache des neurotischen und psychotischen Patienten versteht und sie sozusagen ätiologisch und etymologisch gebrauchen kann, diesen Erkrankungen mit ganz anderem Verständnis entgegentritt als der Naturwissenschaftler, der sich wenig um die Herkunft jeder einzelnen Erscheinung kümmert und sich bei der Behandlung ausschließlich von seiner künstlerischen Intuition leiten läßt. Niemand wird leugnen wollen, daß es auch schon vor Freud hervorragende Psychotherapeuten gegeben hat, die in der Behandlung von Psychosen und Neurosen außerordentlich tüchtig und erfolgreich waren. Doch ihre Kunst war unerlernbar. Die Glücklichen, die dieses Talent besaßen, konnten auch beim besten Willen ihre Methode der Einfühlung nicht lehren. Diesen Kontakt zwischen Patient und Arzt würde der Psychoanalytiker einen Dialog von zwei Unbewußten nennen. Das Unbewußte des Arztes verstand das Unbewußte des Patienten und gestattete der richtigen Antwort oder dem Einfall des wirksamen Heilmittels, ins Bewußtsein des Arztes aufzusteigen. Der Fortschritt, den die Psychoanalyse für die medizinische Praxis bedeutet, besteht wesentlich darin, daß sie aus dieser therapeutischen Kunst eine Wissenschaft gemacht hat, die von jedem intelligenten Arzt ebenso leicht oder ebenso schwer erlernt werden kann wie etwa die Chirurgie oder die interne Medizin. Natürlich wird es in der Psychoanalyse wie in jedem anderen Zweig der Heilkunde stets Künstler geben. Doch geeignete Vorbereitung und Festhalten an den in Freuds Werken niedergelegten Lehren vorausgesetzt, ergibt sich kein Hindernis für eine solche Ausbildung, selbst bis zu dem vom Spezialisten geforderten Umfang.


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