Schweigen ist Gold

(1916)


Ein zwangsneurotischer Patient - sonst manchmal wortkarg und zögernd in der Assoziation - zeigt sich in einer Stunde auffallend redselig. Hierauf aufmerksam gemacht, konstatiert er selber das Ungewöhnliche seiner Redeweise, beklagt dies aber mit der ihm eigenen Selbstverspottung, da doch »Schweigen Gold« sei. - Auf diesen Einfall hin verweise ich auf die symbolische Identität von Gold und Kot und sage ihm, daß er offenbar mit den Worten, wie mit dem Gold und Kot, zu geizen pflege und heute nur ausnahmsweise in verschwenderischer Stimmung sei. Ich erkläre ihm übrigens, daß sein Einfall auch die psychoanalytische Erklärung des Sprichwortes vom ›goldenen Schweigern ermögliche. Schweigen ist nur darum ›Gold‹, weil das Nichtsprechen an und für sich eine Ersparnis (an Aufwand) bedeutet. Bei dieser Bemerkung bricht der Patient in ein unbändiges Lachen aus und erzählt mir, daß er am selben Tage — ausnahmsweise — einen sehr ergiebigen Stuhl gehabt habe, während er sonst - wenn auch ziemlich regelmäßig - doch immer nur kleine Quantitäten zu entleeren pflegte. (Der aktuelle Anlaß zur Redseligkeit und Verschwendung war die plötzliche Befreiung von einem äußeren Zwange; es wurde ihm ermöglicht, eine Reise, die er sehr ungern gemacht hätte, zu unterlassen.)  

Ein anderer Patient (Hysteriker) leidet u. a. an zwei Symptomen, die immer gleichzeitig und in gleicher Intensität auftreten: Stimmritzenkrampf und Krampf des Sphincter ani. Ist er in gehobener Stimmung, so ist seine Rede laut und frei, sein Stuhl ergiebig und ›befriedigend‹. Bei Depression (insbesondere aus Anlaß irgendeiner Unzulänglichkeit) oder beim Verkehr mit Vorgesetzten und Höheren treten Stimmlosigkeit und Tenesmus zu gleicher Zeit auf.  

(Die Analyse dieses Patienten ergibt u. a., daß er zu jenen nicht sehr seltenen Menschen gehört, die ihren Stuhl zurückhalten, weil sie davon eine ›Stärkung‹ [in physischer und psychischer Hinsicht] erwarten,  während sie von der Entleerung ›geschwächt‹ zu werden fürchten. -Nach meiner bisherigen Erfahrung ist diese innige assoziative Verknüpfung von ›Stärke‹ und ›Zurückhaltung‹ auf infantile Unfälle zurückzuführen, in denen die Patienten ›zu schwach‹ waren, den Stuhl zurückzuhalten. Diese Tendenz zur Zurückhaltung strahlt dann auch auf psychische Gebiete aus und führt zur Zurückhaltung möglichst aller Emotionen, aller ›Gefühlsergüsse‹; ein Gefühlsausbruch, der nicht mehr zurückgehalten werden konnte, kann ähnlich starkes Unglücksgefühl zur Folge haben, wie seinerzeit die anale Inkontinenz.)  

Daß es zwischen Analerotik und Sprache gewisse Beziehungen gibt, wußte ich schon von Prof. Freud, der mir von einem Stotterer erzählte, bei dem alle Einzelheiten der Sprachstörung auf analerotische Phantasien zurückzuführen waren. Auch Jones wies in einer Arbeit vielfach auf die Möglichkeit der Libidoverschiebung vom Analen aufs Phonetische hin. Schließlich konnte auch ich in einer früheren Arbeit (über obszöne Worte)1 auf die Beziehungen zwischen musikalischer Stimmbildung und Analerotik hinweisen.  

Die Mitteilung obiger Fälle schien mir begründet, da sie die Annahme rechtfertigen, daß Stimm- und Sprachbildung sowie Analerotik nicht nur zufällig und ausnahmsweise, sondern gesetzmäßig miteinander verknüpft sind. Das Sprichwort: ›Schweigen ist Gold‹ könnte als volkspsychologische Bestätigung dieser Annahme gelten.


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