Psychoanalyse und Kriminologie

(1919)


Die ›Internationale Psychoanalytische Vereinigung‹ und deren Ortsgruppen bemühen sich schon seit 1908 darum, die neue Forschungs- und Untersuchungsmethode der Seelenkunde, die anfänglich nur ein ärztliches Heilverfahren war, für alle zugänglich zu machen, die die Wissenschaft Freuds im weiten Kreis der Theorie und Praxis anwenden wollen.  

Niemand nahm noch die psychoanalytische Revision der Soziologie in Angriff; auf diesem Gebiet erschienen bis jetzt nur unbedeutende Versuche und einzelne allgemein gehaltene orientierende Aufsätze. Ich halte es für unaufschiebbar, daß diese Arbeit von dazu berufenen Männern ehestens begonnen wird.1)  

Man darf aber nicht warten, bis die Fundamente dieser neuen soziologischen Hilfswissenschaft gemächlich niedergelegt und Haus und Dach darüber aufgebaut sind. In erster Reihe sollten jene Arbeiten aufs Programm gesetzt werden, bei denen voraussichtlich praktische Ergebnisse von Belang zu erzielen sind. Solch eine Aufgabe ist meiner Ansicht nach die Ausgestaltung einer psychoanalytischen Kriminologie.  

Die Kriminologie hat bis jetzt die Verbrechen theoretisch auf Versuchung und auf Einflüsse des Milieus zurückgeführt, in der Praxis aber empfiehlt sie zu ihrer Verhütung eugenetische, pädagogische und wirtschaftliche Reformen. Dieses Programm ist im Grunde richtig und erschöpft grundsätzlich alle Möglichkeiten, war aber in seiner Durchführung oberflächlich und widersprach gerade dem von seinen Vertretern stets propagierten ›Determinismus‹, indem es unter den seelischen Triebfedern der Verbrechen die allmächtigsten Determinanten, die Tendenzen des unbewußten Seelenlebens, ihre Entstehungsart und die prophylaktischen Maßnahmen gegen sie vollständig außer acht ließ.  

Die nur aus dem Bewußten geschöpften Geständnisse der Verbrecher und eine noch so eingehende Feststellung der Umstände des Verbrechens werden nie zureichend erklären, warum das Individuum in der gegebenen Lage gerade jene Tat begehen mußte. Die äußeren Umstände motivieren die Tat oft überhaupt nicht, und der Täter, wenn er aufrichtig sein wollte, müßte zumeist gestehen, daß er eigentlich selbst nicht genau weiß, was ihn dazu bewegen hat; meistens ist er aber nicht so aufrichtig, auch sich selbst gegenüber nicht, sondern sucht und findet nachträglich Erklärungen für sein im Grunde vielfach unverständliches und seelisch nur unvollkommen motivierbares Vorgehen, das heißt, er rationalisiert etwas, was irrationell ist.

Als Arzt hatte ich manchmal Gelegenheit, das Seelenleben auch solcher Nervenkranker psychoanalytisch zu durchforschen, die nebst anderen Krankheitserscheinungen, hysterischen oder Zwangssymptomen, den Hang oder den Impuls zu verbrecherischen Handlungen zeigten. Bei manchen gelang es dann, die Neigung zur Gewalttätigkeit, zu Diebstahl, Betrug, Brandstiftungen usw. auf unbewußte seelische Triebfedern zurückzuführen und die Kraft dieser Tendenzen, gerade mit Hilfe der psychoanalytischen Kur, abzuschwächen oder auch vollständig unwirksam zu machen.  

Auf Grund solcher kleiner Erfolge erstarkte in mir die Ansicht, daß man die Verbrechen nicht nur als Nebenprodukte der Neurosen, sondern auch für sich allein zum Gegenstand eines eingehenden psychoanalytischen Studiums machen müßte. Man müßte also die Psychoanalyse in den Dienst der Kriminalpsychologie stellen und eine Kriminalpsychoanalyse schaffen.  

Die Ausführung dieses Programms stößt - so denke ich - auf keine unüberwindlichen Schwierigkeiten.  

In erster Reihe kommt es darauf an, ein reiches kriminalpsychoanalytisches Material zu sammeln.  

Ich denke mir die Sache so, daß berufene Psychoanalytiker die Aufgabe übernähmen, rechtskräftig verurteilte, geständige Verbrecher in den Zuchthäusern aufzusuchen und sie dort einer regelrechten Analyse zu unterziehen.  

Ein solcher Verurteilter hat gar keinen Grund mehr, etwas von den Gedanken und Assoziationen, mit deren Hilfe die unbewußten Motive seiner Handlungen und Tendenzen ans Tageslicht gefördert werden können, zu verheimlichen. Hat er die Kur einmal begonnen, so wird es ihm die sogenannte ›Übertragung‹ durch die Gefühlsbindung an die Person des Analytikers sogar erwünscht und angenehm machen, daß man sich mit ihm auf diese Weise beschäftigt. Die vergleichende Untersuchung gleichartiger Verbrechen wird es dann ermöglichen, die klaffenden Lücken des kriminologischen Determinismus mit solidem wissenschaftlichen Material auszufüllen.  

Das wäre das zu erwartende theoretische Ergebnis dieser Forschungen. Doch auch praktisch halte ich die Arbeit nicht für aussichtslos. Abgesehen davon, daß man den Weg zur pädagogischen Prophylaxe der Verbrechen nur auf Grund einer wirklichen Verbrecherpsychologie finden kann, ist es meine Überzeugung, daß auch die psychoanalytische Behandlung von Verbrechernaturen, also eine analytische Kriminaltherapie nicht unmöglich ist, jedenfalls hat sie mehr Aussicht auf Erfolg als die barbarische Strenge der Gefangenenwächter oder der fromme Zuspruch der Zuchthausgeistlichen.  

Diese Möglichkeit einer psychoanalytischen Heilung, beziehungsweise Nacherziehung der Verbrecher, eröffnet vor uns eine weite Perspektive.  

Die ›Bestrafung‹ wurde bis jetzt vielfach mit dem Bedürfnis nach ›Herstellung der beleidigten Rechtsordnung‹ motiviert, andere erwarteten von der abschreckenden Wirkung die Prophylaxe der Verbrechen; in Wahrheit aber können wir in der heutigen Art der Strafbemessung und des Strafvollzugs mit Leichtigkeit auch rein libidinöse, den Sadismus der strafenden Organe befriedigende Elemente entdecken. Die psychoanalytische Einsicht und die darauf basierte Behandlungsmethode müßte bei den die Strafe vollziehenden Organen wie überhaupt in der öffentlichen Meinung dieses so schädliche Element der Straflust neutralisieren, was an und für sich nicht wenig zur Ermöglichung der seelischen ›Wiedergeburt‹ der Verbrecher und ihrer Anpassung an die gesellschaftliche Ordnung beitrüge.

 

1) Seither erschien allerdings Aurel Kolnais Arbeit über ›Psychoanalyse und Soziologie‹ als Band 9 der Internationalen Psychoanalytischen Bibliothek.


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