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Parlamentsberichterstattung

Sie taugt nichts. Schlimmer: sie gibt gar kein Bild oder ein falsches. Das hat zwei Gründe: Sensationsgier des Inseratenunternehmers und Parteilichkeit.

Die Parlamentsberichte müssen – so schreibt der journalistische Kodex vor – »aufgemacht« sein. »Aufmachung« bedeutet in der journalistischen Arbeit die große Konzession an die Denkfaulheit des Lesers und an seine Gier, niemals sachlich belehrt, sondern nur äußerlich gekitzelt zu werden. Demzufolge gelten Zwischenfälle und große Heiterkeit und »der Abgeordnete Buß schwingt erregt seine Fäuste gegen das Rednerpult« mehr als eine sachliche Auseinandersetzung. Das färbt auf das Plenum ab. Dem Parlamentshabitué ist ja längst bekannt, dass die Beratung im Plenum immer mehr eine Rodomontade, ein Spektakelstück, eine Zirkuspantomime geworden ist. Großaufnahme! Licht! Bewegung! Damals, als die gekränkten Journalisten ihre Berichterstattung einstellten, weil sie der Zentrumsvollbart Groeber Saubengels getauft hatte, glich das Parlament einer Sängerin ohne Publikum. Mutlos hingen alle Unterlippen herab. Für wen noch? Und eine sachliche ernste Beratung, wie sie ja hier und da noch vorkommt, ist gewiß am nächsten Tag, wenns gut geht, eine Angelegenheit, die kein Mensch liest.

Schlimmer als die Unfähigkeit ist der böse Wille. Jede Parteizeitung bläst die Rede »ihres« Abgeordneten bis zur Unförmlichkeit auf, und alles andre verschwindet daneben. Es ist das gute Recht der Presse, in den sogenannten Stimmungsbildern, hol sie der Teufel, so zu tun, als gäbe es nur eine einzige erfolgreiche Partei. (Man darf allerdings nicht sechs verschiedene Stimmungsberichte nebeneinander halten. Wie weise hat es der liebe Gott eingerichtet, dass die meisten Deutschen immer nur eine Zeitung lesen!) In den eigentlichen Berichten aber sollte jede Redaktion so objektiv sein, auch den Gegner zu Worte kommen zu lassen. Nein, da wird gestrichen und gefälscht, daß es eine Lust ist. Und die ausführliche und inhaltsschwere Rede des politischen Antipoden sieht dann ungefähr so aus: »Abgeordneter Kuhfladen: Wir brauchen eine neue Steuergesetzgebung. Die Ziegen in Pommern werden auch immer fetter. Die Bedenken des Kultusministers teilen wir nicht. Versailles ist eine Schande. Die Bewilligung zum Bau von Geldern für eine Rotunde auf dem Königsplatz lehnen wir ab (Heiterkeit links).« Dabei hat der Mann sicherlich all diese Gegenstände seiner Rede hübsch säuberlich der Reihe nach berührt; natürlich weder so unsinnig noch so kurz. Davor steht die Auslassung des Parteifreundes, und da ist dann keine Hyperbel und keine Redefigur, die nicht voll und ganz und in Danachachtung der Zweckzüglichkeit ausgedruckt wäre …

Diese stumpfsinnige Art der Parlamentsberichterstattung verkleinert das politische Horizontchen des Lesers noch mehr. Resultat: Deutschland.

Reform? Ich glaube nicht an reformierende Reglements. Es gäbe ja eine Möglichkeit, durch politisch simultan zusammengesetzte Kommissionen zwei Einheitsberichte in die Welt hinausgehen zu lassen: einen für große Zeitungen und einen für kleine. Dafür spricht: die annähernd größte Objektivität, die so zu erzielen wäre. Dagegen: Schwierigkeiten bei der Stilisierung und der Zeitmangel.

Eine Reform der Parlamentsberichterstattung wird also auf die Einsicht und den guten Willen der Beteiligten angewiesen sein. Ergel: wird sie nicht zustande kommen.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 28.10.1920, Nr. 44, S. 497.