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Führer?

Bebel war ein Kerl. Von oben bis unten in allen Geschäften und Theorien des politischen Lebens erfahren. Heute zieht eine neue Führergeneration auf.

Was da heute zum Teil morphinistisch, zum Teil voll Kokain, nervös, käseweiß und mit der Literatenlocke vor die Arbeiter tritt, überwältigt sie häufig genug einfach durch die rhetorische Leistung. Durch das augenblickliche Feuer. Durch das Temperament. Wer sind diese Überradikalen, denen wir in allen Organisationen begegnen?

Junge Leute, die sich als das Ende einer historischen Reihe betrachten und nicht wissen, dass es nach ihnen noch weitergeht, suchen und finden vor den Massen eine Wirkung, die ihnen im Geisteskampf unter ihresgleichen versagt bleibt. Aber es kostet ja nichts, was sie tun.

Es ist ungeheuer billig, vor eine Versammlung zu treten und ihr entgegenzudonnern, von heute ab müsse eine vollkommene Umwälzung der Gesellschaftsformen, der Liebe, der Kultur, des Pazifismus und der Rätediktatur eintreten. Bravo, bravo! Denn wer Hunger hat und nur ein zerrissenes Hemd auf dem Leibe, erhofft sich von allem Rettung und ist geneigt, zu glauben. Dieser Radikalismus ist überall im Ausverkauf zu haben.

Der, der da oben steht, glaubt. Ich sehe ganz von den Fällen der Salonbolschewisten ab und von den Herren, die für ihr Geschrei bezahlt bekommen. Sicherlich sind viele dieser Jungen, die sich für Führer halten, ehrlich ideal gesinnt, und es schmerzt in Deutschland sehr, wenn man einmal gezwungen ist, ihnen zu sagen, dass sie nicht zu Volksführern taugen. Man ist des Beifalls aller Stammtische gewiß, und das ist bitter. »Der Philister hat manchmal recht, aber nie in den Gründen.« Diesmal haben die Stammtische recht. Natürlich begründen sie es falsch: denn sie wollen ihre Ruhe haben und verdammen den jungen Redner aus schlechten und muffigen Motiven.

Aber was tut denn der da oben? Er ›beweist‹, daß er recht hat. Mit der Logik kann man alles beweisen. Resultate stehen vorher fest und wachsen im Herzen, nicht im Kopf. Und so gewiß große Denker Situationen blitzartig erfassen, intuitiv, wie vom lieben Gott beschenkt, und sich nicht noch damit befassen können, die Wege zu bauen, die sie vorgezeichnet haben, so gewiß gibt es heute zu viele Kartenzeichner und zu wenig Pflasterer. »Und so rufen Sie mit mir: Nieder mit der heutigen Gesellschaftsform!« Das ist gar nichts. In dem Augenblick, wo der junge Mann die Tribüne verläßt und die Sache für ihn erledigt ist, in diesem Augenblick hört die Arbeit nicht auf, sondern da fängt sie an.

Ich muß sagen, dass ich ein kräftiges Mißtrauen gegen diese Unzahl von Weltverbesserern habe, die kosmische Gebäude umstürzen wollen und nicht fähig sind, einen Brief zu frankieren und, höher hinauf, in einer Konferenz so mitzuarbeiten, dass der Karren weitergetrieben wird.

Achtundvierzig Jahre lang, von 1870 bis 1918, setzte das offizielle Deutschland für die fördernde Arbeit die Phrase. Diese Opposition treibts nicht besser. Es ist merkwürdig, wie traurig eine solche Führerversammlung in Deutschland auszusehen pflegt, welche Köpfe, welche Stirnen, welche aufgeblasene Mittelmäßigkeiten dort auftauchen. Über Schopenhauer hat der Spießer zu schweigen. Ein Sitzungszimmer voller Schopenhauer gibt es nicht, und ich mag diese Apostel nicht, die für ihr kümmerliches Privatleben all die schönen Grundsätze ganz außer acht lassen, die sie so heftig propagieren.

Und unter solchen Einflüssen steht heute ein Teil des Proletariats, Leute, die nicht sehen, von wem sie und wohin sie geführt werden. Es ist so weit gekommen, dass das Saalpodium und das praktische Leben kaum noch etwas miteinander zu schaffen haben. Oben: Radikalismus, wo er am slawischsten ist; unten: charakterloses Kleinbürgertum.

Führer – das wollen sie alle sein. Helfen will keiner!

Ignaz Wrobel
Berliner Volkszeitung, 16.10.1920.