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O alte Burschenherrlichkeit!

Der Student des Mittelalters war eine Nummer für sich: der Gelehrtenlehrling unterstand in all seinen Lebensbeziehungen dem Rektor seiner Universität, der ganz andere Befugnisse hatte als ein heutiger Rektor. Die Universitätsbehörde griff damals weit mehr in das Leben des einzelnen Studenten ein als heute, und der Gegensatz zwischen dem »Philister« und dem Studenten war fast so groß wie der zwischen dem Bürger und dem Landsknecht. Der mittelalterliche Staat herrschte nicht unumschränkt, sondern überdachte eine Reihe von staatsähnlichen Gruppen und Gebilden: die Kirche, die Heere und unter anderm auch die Studenten.

Auf diesen alten Hochschulen war nun wirklich alles zu finden, was in der Nation an Geist überhaupt da war (soweit es nicht die Kirche verschluckt hatte). Der Geistliche, der Verwaltungsbeamte, die Hochschullehrer und vor allem ein Heer von teils herumstreichenden und teils seßhaften Gelehrten – wir würden sie heute Literaten nennen –: diese alle vereinigten sich an den Universitäten und gaben hier die Tonart des Geisteslebens an. Wie in einem Brennspiegel vereinigte sich hier alles. Es gab kaum ein geistiges Leben, das nicht von hier seinen Ausgang genommen hätte.

Die Wichtigkeit der deutschen Universität reicht bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Da änderte sich das Bild. Mit den politischen Umwälzungen erwachten auch anderswo die Geister. Auch außerhalb des Bürgertums, das ja die Universität stets völlig beherrscht hatte, machte man sich daran, Menschen geistig zu bilden. Der dritte Stand hatte einst im Mittelalter in den Städten gegen den Ritter und mit der Kirche die Universitäten durchgesetzt: jetzt fing der Bürger an, wie damals der Ritter, ein immer wachsendes Hindernis der Entwicklung zu werden, und auch er wurde überrannt. Vom vierten Stande.

Die politische Einstellung der Universitäten war von vornherein gegeben. Von den Landesfürsten, die ein Interesse daran hatten, zur Erziehung gehorsamer Staatsdiener und zur Überwachung ihrer Untertanen überhaupt die Mittelpunkte des geistigen Lebens zu kontrollieren, von diesen Fürsten gegründet und subventioniert, konnte die Universität natürlich niemals revolutionär werden. Sie war aber nicht immer unbedingt das ganz und gar gefügige Werkzeug der Fürsten. (Wohl aber der Bourgeoisie.) Es gab doch unter den deutschen Professoren stets aufrechte Männer, die ihre wissenschaftlichen Fähigkeiten nicht nur dazu benutzten, der jeweils regierenden Dynastie eine Fanfare zu blasen. Im Jahre 1837 wurden sieben Göttinger Professoren, darunter die Brüder Grimm, abgesetzt, weil sie mit der Aufhebung der Verfassung durch den Welfen Ernst August nicht einverstanden gewesen waren. Das war allerdings vor dem Jahre 1914 …

Die Stellung des deutschen Studenten war demnach gegeben. Als es noch ein revolutionäres Bürgertum in Deutschland gab – zu Anfang des 19. Jahrhunderts –, war diese Studentenschaft unter den besten Vorkämpfern für ein einiges Reich: viele unter ihnen – so Fritz Reuter – riskierten durch das Tragen der verbotenen Farben Schwarz-Rot-Gold Kopf und Kragen. Daß diese Studentenschaft ebenso anständig gesinnt wie politisch aktiv gerichtet war, geht aus der unversöhn-lichen Feindschaft Metternichs gegen sie hervor, der sich nach der Ermordung Kotzebues durch den Studenten Sand und nach dem Wartburgfest im Jahre 1817 in Verfolgungen der Studenten gar nicht genug tun konnte. Das war allerdings vor dem Jahre 1914 …

Wenn in einer Kaste etwas faul ist, so ist das erste, was sie tut, dass sie für sich besondere Ehr- und Rechtsbegriffe fordert und aufstellt. (Zum Beispiel auch das deutsche Offizierkorps.) Die allgemein geltende Anschauung von dem, was gut und böse ist, gilt dann hier nicht, und so schuf sich der Student seine Ehrengerichte, seinen Zwang zum Saufen und seinen Zwang zum Zweikampf.

Über das Studentenleben ist ebenso viel wie verlogen geschrieben worden. Den Ton im Studentenleben gab früher überall das Korps, die Burschenschaft, die Verbindung an. Das ist heute nur noch in kleinen Universitäten so. Ich glaube, dass man bei aller grundsätzlichen Abneigung gegen diesen Betrieb die wenigen guten Seiten, die er hat, nicht vergessen darf. Die Bestimmungsmensur stählt bei vielen unbedingt den Willen; sie versagen in schwierigen Situationen, bei denen es auf einen harten Kopf ankommt, in Erinnerung an die »Säbelkisten« vielleicht weniger, als sie es sonst täten. Die Korpserziehung stärkt die Selbstbeherrschung; die Leute haben fast alle ihre Nerven und ihre Gefühle fest in der Hand. Dem gegenüber steht eine Fülle von schlechten und geradezu katastrophalen Wirkungen der Burschenschaftserziehung.

In dem Verbindungsstudenten wird meist ein heute geradezu lächerlich anmutender Standesdünkel großgezogen. Es ist ja kein Wunder, wenn ein großer Teil unserer Verwaltungsbeamten, Staatsanwälte, Ärzte und Richter sich einbildet, »zur Herrlichkeit geboren« zu sein – hat man es ihnen doch in jenen Jahren, in denen die Seele am weichsten ist, ununterbrochen gepredigt. Der lächerliche Formelkram der Verbindungserziehung überträgt sich aufs Leben; diese ehemaligen Studenten sind später schwer imstande, das Wesen der Dinge zu sehen, weil sie viel zuviel mit den Formen zu tun haben. Daß sich ein Teil auch heute noch mit der Sauferei Gehirn und Körper verdirbt, ist bekannt. Das Trinken hat übrigens nachgelassen: teils weil nichts da ist, teils weil die Temperenz- und Abstinenzbewegung auch auf den Universitäten gewirkt hat.

Was uns andern das Leben erst wertvoll und lebenswert macht: die Wissenschaft oder irgendeine Kunst oder die Liebe zur sozialen Arbeit – davon war oder ist in diesen Kreisen wenig zu merken. Die sozialen Studentengruppen, die so ziemlich die Elite dieser Welt vertreten, sind bei der letzten berliner Studentenwahl jämmerlich durchgefallen – die Mehrheit war stramm völkisch, und das bedeutet soviel wie Bier, Bums, Mensur und Ludendorff.

Seht ihr diese Bilder? Das war die Blüte der Nation und bildet sich noch heute ein, sie zu sein. Hier, bei den Bonner Borussen, hat der Kaiser seine Söhne »studieren« lassen – aus diesen Kreisen gingen diejenigen hervor, die euch verwalten und regieren wollen. Das gerät allemal außer sich, wenn ein Landrat nur ein lebenstüchtiger Kerl und nicht als Fuchsmajor auf die Welt gekommen ist. Und hat doch im Jahre 1914 so unendlich kläglich versagt!

Wie aber niemand in Unterhosen ein Held ist, so enthüllt sich dieses Geschlecht von ehrsüchtigen Duellanten und in den Kneipgebräuchen bewanderten Studikern ganz, wenn es sich unbeobachtet glaubt. Diese Aufnahmen der »Lokalitäten« der Rostocker Universität – das ist mein Preußen. »Juden raus!« – »Man mache ein Pogrom!« – »Haut die Juden tot!« Den Rest lest ihr wohl lieber selber.

Am klarsten und hübschesten aber zeigt sich, wie mannhaft und stark dieses Volk seinen alten Idealen nachhängt, in jener Inschrift, die gleich links vom Wasserkasten des Spülklosetts mit mutiger Hand eingekratzt ist: »Hoch das Kaisertum!« Und so wäre denn die monarchistische Propaganda der Rostocker Studentenschaft endlich einmal dahin gekommen, wohin sie gehört.

Ignaz Wrobel
Freie Welt, 27.06.1920, Nr. 23, S. 4.