Zum Hauptinhalt springen

Deutsches Tempo

»Und aber in fünfhundert Jahren
Will ich desselben Weges fahren.«

Chamisso

Wenn du Sonntag nachmittags in einem Park auf das grüne Gras gehst, obgleich eine Tafel mit dem deutschesten Wort davor steht: Verboten! – dann stellt dich bestimmt irgendein Aufseher, ein Schupomann, ein Kriminalbetriebsassistent, kurz: ein von dir bezahlter Beamter, und du glaubst gar nicht, wie schnell du dein Strafmandat in der Tasche hast. Vorladungsfristen, Zahlungsfristen – es geht bei der großen Menge ähnlich wichtiger Geschäfte ziemlich rasch.

Wenn aber ein strammer Deutschnationaler Waffen ansammelt und verbirgt, um dereinst glorreich gegen Frankreich zu ziehen (und die andern als Helden sterben zu lassen) – dann rührt sich nichts. Justitia, diese Göttin der Gerechtigkeit in der kaiserlich deutschen Republik, lehnt dann müde an der Wand, das Schwert hat sie in eine Ecke gelehnt, die Augenbinde auf die Stirn hinaufgeschoben, und die Waage, die schon immer ein bißchen nach rechts ausgeschlagen hatte, abgestellt. Sie schlummert. Ab und zu spricht sie aus dem Schlaf. Aber es hört keiner hin.

Wo sind die Prozesse gegen die Waffenschieber?

Man glaubt gar nicht, wie sorgfältig, wie subtil, wie unendlich genau die deutsche Justiz arbeitet, wenn es sich um Leute handelt, die ihrem Herzen nahestehen. Und ihr Herz sitzt rechts! – Auf hundert Waffenschiebungen mag eine Verurteilung kommen, alles andere versickert in den Akten. Tatsächlich liegen die Dinge zur Zeit so:

Oberschlesien starrt vor Waffen. Ostpreußens Gutsbesitzer denken gar nicht daran, die Waffen abzuliefern, die sie da noch aufgestapelt haben. Die Geheimorganisationen, die sich nach dem Rathenaumord neue Namen gegeben haben, besitzen große, über das ganze Land verzweigte Waffenplätze. Die Gesinnung in diesen Kreisen ist folgende:

»Man kann nie wissen. Waffen brauchen wir auf alle Fälle: einmal gegen die Republik, der wir eines Tages, wenn wir das radikale Volk in den Städten genügend ausgepowert haben, an den Kragen gehen werden – und zum andern gegen Frankreich.« Das ist eine fixe Idee in diesen Köpfen, die sich allen Ernstes einbilden, dieses am Boden liegende Land könne noch einmal – unter diesen Verhältnissen! mit diesen Menschen! mit diesem Dalles! – gegen Frankreich ziehen. Im Osten benutzt man als Plakat zur Verbergung seiner innerpolitischen Pläne abwechselnd die Polen oder die Bolschewisten, wie es ja diesen schlechtesten aller Deutschen niemals an Ausreden gefehlt hat, um ihre altkonservative Gewaltpolitik zu rechtfertigen. Tatsache ist, dass sie zusammenhalten wie die Kletten.

Den einzelnen lockt vor allem die brillante Stellung, die Uniform und der Machtkitzel. Geldgeber sind genügend da: das Ganze ist, um jenen preußischen Kasinoausdruck zu gebrauchen – glänzend »aufgezogen«. Mit der Summe Arbeit, die diese Leute bis jetzt auf ihre verbrecherischen Ziele verwandt haben, hätte man ein gutes Stück Wiederaufbauarbeit leisten können. Aber dafür haben sie keine Zeit und kein Geld. Und auch nicht die Spur guten Willens.

Ihre Tüchtigkeit kommt ein bißchen spät. Wenn man sich so die Helden ansieht, die damals die abzuliefernden Schiffe bei Scapa Flow versenkt haben, alle die Jungens, die heute noch die Abmachungen mit Frankreich sabotieren, wo sie nur können, die erst kürzlich Fahnen, die an Frankreich abgehen sollten, gestohlen haben: dann muß man immer an einen Jockey denken, der sich noch lange auf seinem Pferd abstrampelt, wenn das Finish längst vorbei ist. Wir sind um viele Helmeslängen geschlagen worden. Es wäre klug, das endlich einzusehen und nicht jene Politik aus den politischen Gründerjahren von 1870 bis 1914 zu wiederholen, die uns diese Niederlage eingebracht hat. Mehr blamieren als das kaiserliche Regime kann man sich nicht gut.

Doch von politischer Einsicht ist keine Rede. Es gilt bei den Nationalen aller Schattierungen als eine Ehrenpflicht, der Reichsregierung so viel Schwierigkeiten wie nur möglich zu machen. Den Eindruck im Ausland kann man sich vorstellen. Kein Kaufmann würde mit einem andern verhandeln, der sich so doppeldeutig, so unzuverlässig, so faul benähme wie diese Brüder. Mir sagte jüngst ein Mitglied der französischen Kommission: »Wie sollen wir zu Ihnen Vertrauen haben, wenn sogar bei einem deutschen Offizier, einem Oberleutnant, der uns in Stettin als Verbindungsmann beigegeben wird, Waffen gefunden werden!« Ich konnte ihm nichts entgegnen – denn er hatte recht.

Sie organisieren auf Teufel komm raus. Denn sie haben nichts zu riskieren. Und das ist das unbegreiflichste Vorkommnis in dieser viel zu weichlichen Republik, die die Gefühle ihrer schlimmsten Feinde schont, statt Politik zu machen: Warum faßt sie nicht wenigstens die Staatsanwälte, die da sabotieren –? Die Staatsanwälte, die viel gefährlicher sind als die Richter, die Staatsanwälte, die Untersuchungen verschleppen, die es an der nötigen Energie fehlen lassen, wenn es gegen die Angehörigen ihrer Bierfamilien, der Korps, geht, die Staatsanwälte, die ihren alten Reserveoffiziersstandpunkt noch heute im Amt vertreten dürfen? Der Staatsanwalt untersteht seinen vorgesetzten Behörden und den Justizministern ganz anders als der Richter: er ist dauernd zu kontrollieren, weil er verpflichtet ist, auf Anweisung zu handeln. Den Richter kann man nur sehr schwer fassen, wenn er Politik macht – und er macht sie. Er wird sich immer auf seine Überzeugung berufen. (Und hat sich jedes Vertrauen verscherzt.) Der Staatsanwalt ist ein juristischer Beamter, der gerade so wie der Verwaltungsbeamte auszuführen hat, was ihm aufgetragen wird. Die Justizminister – und besonders die der Länder – zucken die Achseln. Und dies ist das Resultat:

Die Antirepublikaner haben Waffen die Hülle und Fülle. Wieweit die Reichswehr mit diesen Bestrebungen sympathisiert, ist dunkel. (Kein Wunder, wenn Herr Geßler noch immer im Amt ist. Es soll ihm gesundheitlich nicht gut gehen, und wir wünschen ihm gute Besserung. Aber ob grade eine Krankenschwester wie der Major von Schleicher die richtige Medizin ist, steht dahin.) – Der Bursche, der das Attentat auf Maximilian Harden begangen hat, ein früherer Oberleutnant und jetziger Zuhälter, geht unmittelbar nach der widerlich rohen Tat ins Bureau der Deutschnationalen Partei und meldet: »Ich habe befehlsgemäß Harden erledigt.« Was hatte er da zu suchen –? Warum meldete er es gerade da –? Die beiden Herren des Bureaus, Herr Graf Yorck und Herr von Dryander, der Sohn des früheren Oberhofpredigers, befinden sich in Freiheit. Welcher Beamte hat den Haftbefehl da nicht ausgefertigt –?

Der in die Mordsache Rathenau verwickelte Student Günther hat als Student einen »Deutschnationalen Studentendienst« organisiert, der mit Helfferich, Hergt und dem Dreschgrafen Reventlow in Fühlung stand. Aus dem Programm: Sprengtrupps für Versammlungen, Spitzeldienst in Verbindung mit der politischen Polizei, Unterstützung der Zeitfreiwilligenorganisationen, Fühlungnahme mit den Nationalisten fremder Länder.

Wenn man übrigens diese Studenten ansieht, weiß man nicht genau, wofür ihnen eigentlich der Staat – also wir, die Steuerzahler – diese horrenden Summen zuschustert, die ihr Studium heute kostet. Was tun sie eigentlich? Sie organisieren und schreiben Verfassungen und erkennen sie an und erkennen sie nicht an, und richten Verbände ein, die gar nichts mit ihrer Arbeit zu tun haben, und unterstützen die Technische Nothilfe und stehen unter der Leitung von Professoren, die mit den Mitteln der schlechtesten Wissenschaftlichkeit dartun wollen, dass ihre Schwäger und Onkel und Neffen auf dem Lande und in den Industrie-Konzernen weiterhin herrschen sollen. Über die Masse der verhaßten Volksgenossen. Davon weiß der Kultusminister, Herr Boelitz, nichts.

Ein Herr de la Croix organisiert seinen »Reichsbund Schwarz-weiß-rot« munter weiter; es geschieht ihm nichts. (Er hat übrigens inzwischen die alte Berliner Gerichtskorrespondenz von Oskar Thiele übernommen – irgendeine Glaubwürdigkeit wird also dieser Korrespondenz in politischen Prozessen nicht mehr zukommen.)

Und das geht jetzt vier Jahre so –. Und die Republik findet keine Mittel und Wege, dem abzuhelfen. Es gibt aber welche.

Besserung ist nur zu erhoffen, wenn man sich endlich entschließt, annähernd vier- bis fünftausend der höheren und mittleren Beamten zu pensionieren. Und zwar ausdrücklich wegen ihrer antirepublikanischen, also staatsfeindlichen Gesinnung. Den Herrschaften ist noch immer nicht aufgegangen, dass die Zeit ihres Staates endgültig vorbei ist und dass sie nicht wiederkommt – wenn wir nur wollen!

Solange man mit solcher verderblichen Gesinnung noch Karriere machen kann, solange noch jeder entlaufene Offizier aus dem Freiwilligen-Korps »unterkommt« –, solange das Reichsarbeitsministerium gesteckt voll ist von ehemaligen Militärs, die natürlich glauben, ein Bureau sei ein Reitstall und eine Arbeiterbelegschaft eine Kompanie Soldaten, der man kommandieren darf –, solange diese Reichswehr mit Herrn von Seeckt an der Spitze in dieser Form weiterbestehen darf –, und solange vor allem auf den Universitäten ein solches Schindluder mit der Republik getrieben werden darf –: so lange haben wir Republikaner nicht unsern Staat, sondern eine Maschine, die wir bezahlen, verdammt hoch bezahlen – und die eines Tages gegen uns anfahren kann. Und die das heute schon, wo sie nur kann, tut.

Geht man zu den Reichsbeamten, so sieht man in vielen Amtszimmern zweifellos guten Willen. Aber tausend Ressort-Rücksichten gibt es da – und viele Länder pfeifen auf das Reich. Bayern voran. Und wir –?

Wir sehen zu und denken: es wird schon werden – und stehen dabei, wie der Staatswagen gemütlich, in deutschem Tempo, immer hübsch langsam voran, dahinbummelt. Wir sollten dem Kutscher seine schwarz-weiß-rote Peitsche aus der Hand nehmen, den Wagenschlag öffnen und rufen: »Alles aussteigen –!« Und die Tafeln abreißen, auf denen zu lesen ist: »Rechts fahren!« – Und nicht dulden, dass wir eine Fahrt bezahlen, die, wenn sie so weitergeht, auf den Rieselfeldern enden wird.

Ignaz Wrobel
Welt am Montag, 07.08.1922.