Mißachtung der Liebe
Ach, Tante Julla, du in Neu-Ruppin
liest schaudernd von berliner Scheußlichkeiten,
und wie die Damen ihre Glieder spreiten,
und denkst: Dies Sündenbabylon Berlin!
Und deine Äuglein öffnen sich in Lüsten,
weil deine Kaffeeschwestern gerne wüßten
von einem Paar, gelagert Bein an Bein …
Wie mag das sein?
Ach, Tante Julla – komm mal an die Spree.
Und sieh dir dieses Wogen aus der Nähe,
ganz aus der Nähe an, wie ich es sehe.
Und denk dir nur ein Chambre séparée.
Sie quietscht. Der Kellner schummelt. Dünne Geigen
verleiten sie, sich ziemlich ganz zu zeigen.
Ein Mieder noch und noch ein Brüstchenlein …
Was kann da sein –?
Ach, Tante Julla – wir sind nicht blasiert.
Und doch: wie eng ist dieser Markt der Liebe!
Der liebt die Knaben, jener schätzt die Hiebe,
und der ist nur von Zöpfen enchantiert.
Die Themis bullert mit Moralgesetzen.
Man muß Erotik nicht so überschätzen.
Bleib nur in deinen bürgerlichen Träumen,
du hast hier nämlich gar nichts zu versäumen.
Bleib, Tante Julla, in dem Stübchen klein –
Was kann da sein –?
Was kann da wirklich sein –?
Die Weltbühne, 30.10.1919, Nr. 45, S. 549.