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Tagebuch einer Abneigung

»London«, sagte Walter Hasenclever, als er zurückkam, »das ist überhaupt keine Stadt – das ist eine Generalversammlung von Häusern.« Nun, das ist es wohl nicht – aber eine Stadt ist es auch nicht, es ist, vierundvierzig Städte, immer eine an der andern, eine verwickelte, verwinkelte, eigenwillige Sache. Ist London schön –?

Die Frage ist nicht richtig gestellt. Dieser Stadt ist mit dem Impressionismus überhaupt nicht beizukommen. England scheint mir kein Land zum Zusehn – England ist ein Land, in dem man mitmachen muß. Aber ich bin in meinem Leben noch niemals in einem Lande gewesen, wo ich so wenig Lust gehabt hätte, mitzumachen. Auch ohne das, was einer über England gelesen hat, muß er fühlen: dieses Land ist ein großer Klub, mit bestimmten Gebräuchen, Zeremonien, Satzungen – man ist Mitglied, oder man ist es nicht. Ich bin es nicht.

Für den Engländer beginnt der Farbige in Calais. Die Leute sind freundlich, fast alle in ihrer Art hilfsbereit. Doch fühlen sie sich dem Europäer, dem Nichtengländer gegenüber etwa so, wie sich der Weiße vor dem Schwarzen zu fühlen pflegt; es ist da eine Kluft, und keine Brücke der Welt führt hinüber. Es hilft alles nichts. Du kannst es nicht mit Händen fassen, es entgleitet dir, und zurück bleibt diese sonderbare Abneigung, deren ich nicht Herr werden kann, seit ich hier bin. Wie diese Abneigung, die vor und mit den ersten Eindrücken da war, alles färbt! Wie das Resultat schon vorher feststeht, wie ungerecht man ist! Zweimal habe ich auf und davon fahren wollen – aber nichts wie fort! Und dann bin ich geblieben, und ich blicke zurück und frage, doch das Land antwortet nicht. Du hast den Eindruck –: was du hier für dein Geld bekommst, ist, nicht hinausgeworfen zu werden.

Für dein Geld … Das Land ist teuer, teuer vor allem in jenen Kleinigkeiten, die zwar nicht unbedingt erforderlich sind, die das Leben aber verschönern. Unsinnig und ganz und gar undifferenziert sind die Mieten: jetzt weiß ich endlich, wie es die englischen Bürgerfamilien möglich machen, so viel zu reisen. Sie vermieten ihre Landhäuser sommersüber für viel Geld, für sehr viel Geld. Diese Mieten beginnen bei etwa dreihundertundfünfzig Mark monatlich, Mieten von fünfhundert und achthundert Mark sind durchaus keine Seltenheit. Dafür gibt es dann kleinere und größere Villen, darunter viele, die grauslich eingerichtet sind. Wie überhaupt zu sagen ist, dass der Engländer das, was er auf dem Kontinent für sich verlangt, zu Hause gar nicht hat.

Was er aber hat, sind Qualitätswaren in einer Auswahl, in einer Reichhaltigkeit, von der man sich kaum eine Vorstellung machen kann. Hier habe ich nur einen Rausch bekommen: den Kauf-Rausch. Man möchte ganze Läden auskaufen. In Paris berauscht dich der Frühling, die Stadt, ein schwebendes Nichts – hier berauschen dich zu kaufende Gegenstände. Natürlich ist es unrichtig, wenn da behauptet wird, die englischen Waren seien in Glauchau hergestellt und bekämen nachträglich eine englische Bezeichnung aufgepappt. Das mag für manche Stoffe zutreffen, für die englische Wolle trifft auch dies nicht zu. Es überfällt einen, von der Tabakspfeife bis zur Krawatte, von den Lederkoffern bis zu den Hemden, eine Fülle hochwertiger Waren. Die Preise sind nicht niedrig: für das, was gegeben wird, nicht hoch. Ein Verständnis für gutes Material herrscht vor, wie wir das nicht kennen. Dazu in den sehr guten Geschäften Londons eine leicht snobistische Betonung des schlichten Handwerks … in dem Hutgeschäft von Lock in der St. James Street sieht es aus wie im achtzehnten Jahrhundert, und es soll auch so aussehn. Ich hatte nie das Gefühl, überteuert zu werden; wenn eine Sache anderswo sechs Schilling billiger ist, dann ist sie eben entsprechend schlechter. Was Qualität ist, das wissen sie. Die Briefmarke klebt. Der Koffer schließt. Der Stahl schneidet. Im übrigen fühlst du in jedem Laden: hinter diesem Lande steht eine Welt.

Das fühlst du auch anderswo.

England ist, für einen Beobachter mit einem Bosheitssplitter im Auge, das Land der alten Weiber. Eine solche Fülle von alten Damen habe ich nirgends sonst gesehn. Sie strömen zuhauf: zu Kirchen-Kongressen, zu Versammlungen, zu Konzerten, ins Theater … mit dieser verwitterten Haut, die wohl darauf zurückzuführen ist, dass der Teint der Engländerin sehr zart ist … da leben sie dahin, und immer sehe ich hinter jeder den Mann, der für sie arbeitet, denn sie arbeiten nicht. Wer arbeitet hier –?

Bei Gott, der Mensch ist nicht für die Arbeit gemacht; das ist ein Vorurteil, von jenen Völkern erfunden, die sich von Natur aus plagen müssen. Nun gut. Aber fahre durch die Villenstraßen Westlondons – wer in aller Welt arbeitet, damit so viele gut leben können? Nicht der Engländer, das ist einmal sicher. Denn so viel gibt es auf dieser Insel trotz allen Exports nicht zu arbeiten. Der Handel? Ja, gewiß. Aber es sind doch in erster Linie fremde, meist farbige Völker, die für diese hier arbeiten – sie haben sie dazu gezwungen, und wenn man denkt, wie rasch so etwas vergessen wird … Das Vermögen, das sich eine Generation um 1850 mit den schlimmsten Gewalttaten von den Fremden erpreßt und zusammengeräubert hat, entfaltet sich im Jahre 1931 milde und sanft-kultiviert. Die Tochter schreibt gute Romane (in England gibt es Schriftstellerinnen, die nicht die ganze Innung blamieren, sondern die sie heben); ein Sohn sammelt Bibeln, ein zweiter züchtet Blumen und seinen Spleen … und niemand spricht von dem alten Räuberhauptmann anders als mit dem Ausdruck größter Verehrung. So können sie sich ihre Preise leisten, auf dem Rücken der andern.

England, das ist Venedig. Es ist die mächtige Spitze eines mächtigen Reichs, aufgebaut auf Ländern, die die Engländer erschlossen haben, worauf sich das Wort »erschossen« ganz von selber reimt. Heute, wo es kaum noch nötig ist zu schießen, regieren sie mit jener großen Kunst, alles mit einem Kompromiß zwar nicht zu beendigen, aber doch zu schlichten, eine Kunst, die der Deutsche nie lernen wird. Bei uns heißt es: erst biegen, dann brechen. Der Engländer biegt. Und die andern beugen sich.

Auch die Deutschen beugen sich. Die Anmaßung der Engländer, auf dem Kontinent »Ordnung zu halten«, wird als selbstverständliche Basis aller Diskussionen empfunden, während immerhin die Asiaten schon so weit sind, den Engländer zu fragen, was er eigentlich in China verloren habe. Der Deutsche, in seinem grauenvollen antifranzösischen Wahn, fällt geschmeichelt darauf hinein, wenn ein englischer Admiral mit verständnisvollem Gezwinker »Auf die zwei weißen Rassen« anstößt. Und dann geht das Spiel der deutschen Politik weiter, die, nach Bedarf, in London gemacht und verhindert werden kann.

Doch laßt uns nun wieder von den Engländern sprechen.

Die kontinentalen Vorurteile über Engländer sind Vorurteile, und sie sind fast alle falsch.

So reinlich sind sie gar nicht. So hölzern sind sie gar nicht. So praktisch sind sie gar nicht. So großzügig sind sie gar nicht; ihre Polizei nimmt es an Kleinzügigkeit mit jeder europäischen Bureaukratie auf – trägt doch zum Beispiel das Papier für Ausländer die Sparte »Government Service«, und da fragen sie dich – dreizehn Jahre nach Kriegsende –, ob du Soldat gewesen bist und wie lange. In Frankreich wird der Fremde das nicht gefragt.

Was ich von den Wohnungen des englischen Mittelstandes gesehn habe, war großenteils schrecklich: Steglitz und demgemäß ein bißchen schmuddlig. Es gibt selbstverständlich bessere Wohnungen, und eine Badewanne haben auch die kleinen alle, aber die ist dreckig. Wir sind gewohnt, uns den Engländer in einem reichen Rahmen vorzustellen, ohne Butler tuts die deutsche Phantasie nicht; von den Bauern in Schottland und den arbeitslosen Kohlenarbeitern wird weniger gesprochen. Mehr von Wimbledon. Diese Maßstäbe sind ganz und gar verkehrt. Aber auch die guten Maßstäbe versagen hier, vielleicht ruft das meinen Widerwillen hervor? Nein, das kann es nicht sein. Da ist wohl noch etwas andres.

So, wie du mit einer Frau nicht befreundet sein kannst, die im Theater nicht über dasselbe lacht wie du … im englischen Theater ist es ganz furchtbar. Dieses Publikum ist das dankbarste Theaterpublikum, das ich jemals getroffen habe – hier möchte wohl jeder Schauspieler Schauspieler sein. Wie gehen sie mit! wie rauscht es bei jedem zweiten Satz durch das Theater … und ich sitze dabei und kann nicht lachen und kann mich nicht freuen, mir erscheint das alles albern, kindisch, ohne kindlich zu sein – ich habe dazu überhaupt keine Beziehung. Kenner haben mir versichert, hier seien schöpferische Kräfte der Schauspielkunst am Werke … vielleicht. Was ihre Musik angeht, so sind sie wohl das sangesfreudigste Volk im weiten Umkreis, aber sie erscheinen mir ganz und gar unmusikalisch. »Das Tragische am mißtönenden Geschrei des Spatzen«, hat Hebbel einmal in seinem Tagebuch notiert, »ist, dass es ihn freut und uns unmelodisch klingt.« Ihre Musik hat gar keine Fallhöhe – einmal stand ich auf dem Lande vor einem Häuschen, da sangen sie. Erst hatten sie sich unterhalten. Und sie gingen von der Sprache in den Gesang über wie auf einem Trottoir, der Gesang war ohne Geheimnis, schwunglos, nüchtern, eine Musik ohne Musik. Vielleicht liegt es an meinen Ohren.

Die Ausländer, die hier wohnen, sagen, das sei die klassische Krankheit aller Fremden: erst liebe das Land keiner, nachher wolle keiner mehr fort. Ich will immerzu fort. Man fühlt von den Cricket-Plätzen bis zu den Zeitungen: hier heißt es, alles mitmachen oder abfahren; ein Drittes gibt es nicht.

Mutet uns aber jemand zu, mit diesen englischen Maßen zu messen, die keinem Dezimalsystem angehören und die uns das Leben reichlich erschweren? Dafür gäbe es doch nur einen stichhaltigen Grund, nur einen: mit und bei den Engländern Geld zu verdienen. Ich verdiene aber hier keines. Also sehe ich auch keinen Anlaß, mir dieses Zeremoniell anzueignen, das mir schwerfällig, lästig und nicht angenehm erscheint.

Und es ist ein Zeremoniell, und ein sehr kompliziertes dazu. Das beste Buch darüber, das mir bekannt ist, stammt von Karl Silex und heißt »John Bull zu Hause; Der Engländer im täglichen Leben« (erschienen im Verlag E. A. Seemann in Leipzig). Wer das intus hat, der hats intus – aber ich möchte es gar nicht intus haben. Ich denke, dass man dergleichen einmal sagen darf. Denn:

Das Geprotz der Reiseschriftsteller hat im allgemeinen nachgelassen – die Schule Edschmid ist vorüber. Es ist keine Leistung mehr, nach Bali zu fahren, es ist eine Geldfrage. Und was einer aus seinen Reisen macht, das hängt nicht von der Entfernung ab, kein Talent wächst im Verhältnis der Distanz zum Heimatort. Doch will jeder zweite deutsche Leser noch immer den Reisenden haben, der damit prunkt, dass er, gewissermaßen, das fremde Land besiegt habe: sei es, dass er »denen da« als Deutscher imponiert habe, was meistens gar nicht wahr ist, sei es, dass der Schriftsteller herrliche Beziehungen sein eigen nennt, das hebt den Leser ungemein. Es hängt das mit der tiefen Unsicherheit des Deutschen zusammen, der so gut wie gar keine gesellschaftliche Tradition hat und nun selig ist, sich wenigstens an eine fremde anschließen zu können; dann spielt er Golf in Anführungszeichen. Und ist so englisch, wie es ein Engländer niemals sein wird. Von der Enge, alles auf 1914 zu beziehn, ganz zu schweigen. Der Deutsche ist ein armes Luder: er wundert sich stets, wenn man ihn in fremden Ländern nicht hinter die Ohren haut, und verzeichnet gespitzten Mündchens, ob die fremde Nation auch »deutschfreundlich eingestellt« sei, ein Begriff, den er zu diesem Behufe erfunden hat. Noch heute sehn wir solche Albernheiten bei Reisenden, die nach Frankreich fahren. In Frankreich sind die Deutschen frech; in England sind sie kleinlaut – es imponiert ihnen. So aber kommt man einem Lande nicht nahe.

Die Frage ist hier eine ganz andre. Das erste, was ich getan habe, war, jedes Urteil abzustoppen, oder es doch, drängte es sich auf, deutlich mit meinem Signum zu versehn. Liebe lehrt erkennen, Haß lehrt erkennen –; Gleichgültigkeit nie. Was ist es nur –? In Frankreich wälze ich das Lexikon, weil der Mann im Tabakladen ein Wort gesagt hat, das ich noch nicht kenne. Hier höre ich nicht zu, wenn die Leute etwas sagen – diese Sprache ist mir gleichgültig, und eine Nuance von Widerwillen ist dabei. Was ist es –?

Ein Reisender hat sich gefälligst stets selber zu kontrollieren, er fingiere ja nicht, ein objektiver Aufnahmeapparat zu sein. In jeder Reiseschilderung sind Ressentiments und Liebe gleichmäßig vertreten, wir wollen uns da nichts vormachen. Ressentiment ist es nicht – mir hat keiner etwas getan, und die Unannehmlichkeiten auf der Reise sind hier nicht größer als anderswo, eher kleiner. Doch kommt aus diesen Schaukelpferdaugen kein Strahl des Lichts zu mir herüber – und ich vergelte eine Gleichgültigkeit, die Diskretion sein mag, Stolz, Selbstzufriedenheit und gute Erziehung, alles durcheinander – ich vergelte sie mit Gleichgültigkeit. Das Empire wird ja wohl davon nicht zusammenstürzen. Wie ein Sack, hingesetzt und da steht er, so stehe ich in diesem Lande.

Unheimlich ist das. Eine Informationsreise ist dies nicht, sie hat nicht den Sinn, etwa die englischen Angestellten-Löhne zu studieren, und so bleibt eine merkwürdige Leere. Die kleinen Härchen auf der Haut richten sich gesträubt auf – was ist es hier? Unter der glatten Fassade, die geschaffen ist, das Leben zu erleichtern, wittre ich eine gebändigte, starke Brutalität – in keinem andern Lande ist die pornographische Literatur des Flagellantismus so groß wie in England. Man fand bei einer londoner Köchin unter ihren versehentlich zurückgelaßnen Sachen einen Haufen von Briefen eindeutigsten Inhalts, den ihr und sich zur Lust ein Verführer geschrieben hatte. Schließlich ist sie dann zu ihm gelaufen. Was besagt das? Nichts, natürlich … Was ist unterhalb dieser Fassade? Diese Erziehung, die es streng verbietet, Gefühle zu zeigen, scheint die Gefühle verkümmert zu haben, oder sind die im Leben auch so stark wie in dieser außerordentlichen Literatur Englands? Vielleicht. Ich weiß auch, wieviel Lebensklugheit hinter diesen scheinbar albernen Wettergesprächen steckt; wie diese Bräuche und die ein für allemal feststehenden Sitten, die sich nur sehr langsam wandeln, geronnene Weltweisheit sind – sie haben sich als praktisch für das Zusammenleben von Menschen erwiesen, und darum werden sie beibehalten und respektiert. Bei uns fängt jeder für sich immer wieder von vorne an. Und dass es mit dem bis zum Überdruß zitierten »cant« nichts ist, bedarf unter verständigen Leuten keiner Erwähnung; das ist ein Kriegsbegriff wie Heeresbericht oder Papieranzüge. »Der cant«, spricht der Weise, »ist die Verbeugung, die das Laster vor der Tugend macht.« Ich weiß das alles – aber immer ist mir hier zumute, wie wenn ich einen zu engen Kragen anhätte.

»Kommen Sie nur auf den Kontinent zurück!« sagen die Anglomanen, »und Sie werden sehn, wie schön England ist!« Ja, wirklich? Ich liebe die Anglomanen nicht. So schön scheint keine Sonne wie in England; so herrlich wird nirgends gelebt, so gut wird nirgends gekocht (und das, also das ist mal bestimmt nicht wahr – Gott segne diese Küche!) – so reich, so mächtig, so wundervoll … dergleichen reizt; ich habe leise Anwandlungen dieser Krankheit in und für Frankreich gehabt. Gewiß, in England gibt es die mächtigsten Banken der Welt, aber was soll mir das? Man muß mit der Macht der andern nicht protzen. Was also muß man tun –?

Die Wahrheit sagen. Es gibt Leute, die sind unmusikalisch. Es gibt Leute, die haben kein Gefühl für den Norden. Ich für mein Teil verstehe nichts von England, schlimmer: ich spüre nichts. Kein Wind weht, den ich einatmen mag; aus keinem Bach mag ich trinken; von keinem Strand ins Meer laufen; auf keine Wiese mag ich mich werfen und mit den Zähnen die Grashalme ausrupfen: fremd ist mir diese Erde. Sie singt nicht. Sie sagt nichts. Sie nährt mich nicht. Kein Ton in mir schwingt, keine Saite erklingt; ich frage nichts, das Land antwortet nicht, nichts strömt hinüber und herüber, und ich werde froh sein, wenn ich wieder zu Hause bin.

Peter Panter
Die Weltbühne (Druckfahne v. 10./11.08.1931).