Zum Hauptinhalt springen

Erinnert ihr euch?

Das endlose polnische Land. Kaum gewellt, ist es eintönig ausgebreitet, traurig, lehmig, schmutzig. Und nun ist dieses Land leer.

Kilometer auf Kilometer kein Mensch. In ganz großen Zwischenräumen begegnet dir wohl einmal ein Bäuerlein mit einem Wagen und seinen zwei kleinen Pferdchen. Er zieht demütig die Mütze. Seine Augen sind nicht freundlich.

Kilometer auf Kilometer kein Mensch. Was dir auffällt, sind die zahlreichen Schilder an allen Ecken und Kanten: »Zur Etappen-Kommandantur«, »Zur Entlausungsanstalt«, »Für Mannschaften verboten« »Nur für Offiziere«. Was ist das? Die Preußen sind im Land.

Da, hinten an der Scheune, Menschen. Ein Trupp von vielleicht vierzig oder fünfzig Mann steht faul und in nachlässiger Haltung in zwei Reihen. Mißmutig. Gelangweilt. Ohne Hoffnung. Mit Recht in Grau gekleidet. Die Anzüge sind nicht mehr gut. Die Hosen lange nicht gewechselt. Viele Jacken geflickt. Die Augen blicken trübe. Die Gesichter sind lehmgelb oder farblos. Die Leute sehen nicht gut aus.

Nun kommt Bewegung in die kleine Gesellschaft. Ein fetter und wohl aussehender Mann ist vor sie hingetreten. Sein praller Waffenrock umschließt ein stattliches Bäuchlein. Er ruft etwas. Die Leute rucken zusammen und stehen wie die Mauern. Der Mann vor ihnen schimpft. Du stehst nicht nah genug und kannst nicht alles hören. Du hörst: »Lümmels! Auf den Trab bringen … ! Alle ins Zuchthaus! … Verdammte Bande –!« Nun werden gewiß die Beschimpften sich auf den fetten Mann stürzen und – – Nichts. Sie stehen wie die Mauern.

Aus dem kleinen Hause hinter der Scheune kommt noch ein Mann. Er ist im Gegensatz zu allen anderen elegant angezogen und hat brillante Gesichtsfarbe. Im Auge hat er einen Scherben. In seiner Hand wippt nachlässig eine Reitgerte. Der fette Mann brüllt entsetzlich. Die Köpfe fliegen herum. Nach links. Zu dem Mann mit dem Scherben. Der sieht gar nicht hin. Dann schlendert er langsam vor die Front.

Du kannst nicht hören, was er sagt. Du kannst es nicht verstehen. Du kannst vielleicht all das, was da geschieht, nicht verstehen … ?

Dann laß dir sagen, dass diese da – diese vierzig da – eine sinnlose und unnütze Arbeit schon seit Jahren hier im fremden Lande verrichten. Für wen? Das wissen sie nicht. Wie lange schon? Das wissen sie nicht. Wie lange noch? Das wissen sie nicht. Diese vierzig da – sie sind nur eine kleine Truppe.

Aber so wie sie – so treiben sich Tausende und Hunderttausende in Polen, in Flandern, in Rumänien, in ganz Europa herum – zum Ruhm ihrer Fahnen. (Die Fahnen stehen zu Hause im Zeughaus. Sie haben sie nie gesehen.) Tausende und Hunderttausende stehen und liegen hier mißmutig – arbeiten hier mißmutig und umsonst für eine Sache, von der sie nichts haben, von der sie niemals etwas haben werden – die ihnen gleich ist. Aber sie wissen: vor ihnen steht der Feind. Und hinter ihnen das Zuchthaus. Das ist ihre Welt.

Aber wie ging es so lange? Es ging so lange, weil auf vierzig immer einer kam, ders besser hatte als sie. Weil auf zweihundert immer einer kam, der wie ein Gott lebte, wie ein Gott geehrt und wie ein Priester bezahlt wurde. Die treiben. Und lassen nicht nach.

Erinnert ihr euch –? Wollt ihr das noch einmal –? Diese Jahre voller Qual, voll stillen Märtyrertums, voll Plackerei und Schindens? Noch einmal? Wenn ihrs nicht wollt –: vergeßt nicht.

Ignaz Wrobel
Freiheit, 18.05.1920.