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Die Aktenmappe

Heute nachmittag hat sich folgendes begeben: Ich bin mit der Kleinbahn über Land gefahren, zum nächsten Zahnarzt; das ist eine Stunde Fahrzeit. Der Mann hat mir ein Kokainspritzchen gemacht, gebohrt und gehämmert und gezogen und gezerrt, es war sehr schön. Dann schieden wir als gute Freunde, und ich ging, trotz allem, Mittag essen. Dazu trank ich, weil er mir das verboten hatte, zwei Schnäpschen. (Sehr unrecht.) Dann ging ich zum Bahnhof und fuhr nach Hause. Müde ist nicht das Wort. Ich versuchte, einen hochfeinen Gesellschaftsroman zu lesen, der in Hotels spielte, die mich überhaupt nicht hereinlassen – ob es das war oder die beiden Schnäpse, oder das Kokain … kurz, ich schlief sanft ein. Und wachte erst auf, als das gewohnte Geruckel nicht mehr da war. Ich sah nach dem Namen der Station … Allmächtiger! Überzieher, Hut, raus. Grade noch … nein, der Zug hielt noch. Und da sah ich an mir herunter. Und hatte so ein merkwürdiges Gefühl … Das war nicht mein Überzieher. Der war lila, meiner ist nicht lila. Wie peinlich! Blitzschnell funktioniert das Gehirn: jetzt wird der Zug abfahren, dann gehst du zum Stationsvorsteher, erklärst dem das, der telefoniert an die Endstation, und die Mäntel werden ausgetauscht. Das kann gewiß … der Zug hielt immer noch. Ich im Zuckeltrab zurück. Mit einem etwas verlegen gemurmelten: »Ich habe da … entschuldigen Sie … « zog ich aus und zog ich an; der wahre Besitzer des geraubten Überziehers schlief wohl in einer Ecke, denn die andern Herren grinsten nur etwas teilnahmslos. Raus. Der Zug hielt immer noch. Und da sah ich an mir herunter. Und da hatte ich eine braune Aktenmappe in der Hand! Und das war nicht meine! Denn ich hatte überhaupt keine.

Ich habe sie natürlich zurückgegeben; es war noch Zeit. Aber eine Frage: Nehmen wir einmal an, ich wäre auf der Station nicht bekannt gewesen. Und nehmen wir einmal an, ich wäre arbeitslos. Und nehmen wir einmal an, die Geschichte sei auch noch wahr: wer glaubt einem nachher dergleichen?

Ja, ja … müde. Und gerade zu Mittag gegessen. Und das Kokain. Gewiß doch. Der Staatsanwalt: »Sind Sie denn mit einer Aktentasche zum Zahnarzt gefahren?« Nein, muß ich da antworten. Der Vorsitzende: »Pflegen Sie denn sonst stets mit einer Aktenmappe zu gehn?« Nein, muß ich da antworten. Nun – das ist alles konstruiert. Zu einem Verfahren wäre es ja nie gekommen – denn ich hätte ja die Mappe gleich beim Stationsvorsteher abgegeben. Ich nehme ja nur einmal dies und jenes an. Und folgere: Wir begehen während des Alltags viele unvernünftige Handlungen. Wir passen nicht auf. Wir tun Dinge, die aber auch nicht den leisesten Sinn haben, jeder von uns. (Daß wir sie nachher gut machen, ist eine andere Sache.) Nun aber: Man soll niemals in einem Gerichtsverfahren Zeugen und Angeklagte von dieser Regel ausnehmen. Und wenn ein Angeklagter oder ein Zeuge solche Dinge vorträgt, die zunächst ganz und gar wahnwitzig anmuten (»Sie werden uns doch hier nicht erzählen wollen … «), dann soll man das erst prüfen. Natürlich gibt es dicke Lügen, die da vorgebracht werden. Was aber die Fehlhandlungen angeht, vor allem die Fehlbeobachtungen … das geht ins Aschgraue. Seid vorsichtig, ihr Richter! Sei vorsichtig, öffentliche Meinung! Laßt uns vorsichtig sein, alle miteinander! Ich bin jahrelang an einer Tür in unserm Haus vorbeigegangen, ohne sie zu bemerken. Eines Tags bemerkte ich sie. Hätte man mich vor diesem Tag als Zeuge geladen und gefragt: »Ist da unten, an der und der Stelle, eine Tür?« ich hätte unter meinem Eid gesagt: »Nein. Da ist keine Tür.« Geht das nicht jedem manchmal so? Das geht jedem so. Kann jedem so gehn.

Darum, so habe ich mir gedacht, als ich sehr beschämt nach Hause ging, darum sollte man vorsichtig sein, bevor man zu jemand sagt: »Sie lügen! Das ist unmöglich! Sie sind jahrelang an der Tür vorbeigegangen und wollen uns hier weismachen, Sie hätten sie nicht gesehn ?« Darum sollte man vorsichtig überlegen, bevor man zu jemand sagt: »Sie fahren da in der Bahn und nehmen eine Handtasche mit, die Ihnen nicht gehört … und dann wollen Sie uns hier erzählen, Sie hätten das aus Versehn getan? So ein Versehn ist mir noch nicht vorgekommen!« Mir ist es heute vorgekommen.

Peter Panter
Prager Tageblatt, 15.04.1932, Nr. 90, S. 4.