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Phonetische Orthographie

Man mag daraus sehen, wie kleinlich und künstlich die Bestrebungen sind, die historisch gewordene Orthographie einer Sprache durch eine phonetische Schreibung zu ersetzen. Das Bedürfnis ist natürlich selbst in den Augen der Phonetiker verschieden in den verschiedenen Kultursprachen. Die Übereinstimmung zwischen Sprache und Schrift scheint im Italienischen ausreichend, im Französischen schon geringer, ungenügend im Deutschen, ganz ungenügend im Englischen. Um die Kleinlichkeit dieser Bestrebungen zu begreifen, muß man vor allem festhalten, dass die lebendige Sprache sich in ihren Lautveränderungen unaufhörlich und in jeder Sekunde unmerklich entwickelt und dass die Einführung einer neuen Rechtschreibung immer nur nach größeren Zeitabschnitten, wenn die Veränderungen sehr merklich geworden sind, vor sich gehen kann, und zwar absichtlich, vom grünen Tische aus, während der Lautwandel der Sprache unabsichtlich geschieht. Vom grünen Tische aus ist eine Veränderung der Orthographie immer geschehen; heute ist das offenbar; aber auch früher ging jede solche neue Orthographie schließlich doch vom grünen Schreibtische einflußreicher Schriftsteller aus. Dafür bekommt jetzt das ganze Volk die Neuschreibung von verzweifelten Schulmeistern eingeprügelt. Die Wirkung ist nun regelmäßig folgende: je geübter ein Mensch im Gebrauche der alten Orthographie ist, das heißt je mehr er beim Lesen und Schreiben mit bloßen Wortbildern zu tun hat, desto lästiger wird es ihm sein, sich an die neue Schreibung zu gewöhnen. Ich für mein Teil gestehe, dass ich die neue Orthographie nicht einer Viertelstunde Lernens wert gehalten habe und es gern der Druckerei überlasse, die Wortbilder meiner Schrift in die Wortbilder der neuen Orthographie zu verwandeln. Die ganze erwachsene Generation wird also, soweit sie in Wortbildern, in einer schriftlichen Sprache zu denken gewöhnt ist durch die Neuschreibung nicht gefördert, sondern bestenfalls gestört. Die neue Generation aber hat ein paar Dutzend kleine Ausgleichungen und Bequemlichkeiten erworben, von denen es mir doch fraglich ist, ob sie die ausgeteilten Prügel wert sind. Denn wirklich phonetisch kann eine Schreibung wegen der Mängel unseres Alphabets überhaupt nicht werden. Der Gegensatz zwischen Sprache und Schrift ist, wie ich hoffentlich überzeugend dargelegt habe, ein schreiender. Und selbst wenn man das große künstliche, phonetische Alphabet anstatt unserer armen vierundzwanzig Buchstaben einführen wollte, so wäre der Gegensatz zwischen Sprache und Schrift nur etwas gemildert, nicht aber aufgehoben.

Es scheint z. B., dass das lateinische Alphabet zu der Aussprache des Althochdeutschen schlecht genug paßte. Die Menschen halfen sich, wie sie konnten. In dem einen Falle wurde der eine von zwei Lauten der herrschende und wir haben jetzt nur einen Laut, wo früher zwei Buchstaben (z. B. v — welches u geschrieben wurde — und f) vorhanden, also auch wohl nötig waren. In dem anderen Falle mag vielleicht die Zufallsgeschichte der Schreibung dazu geführt haben, zwei so verschiedene Laute wie g und k (c) deutlicher auseinander zu halten. Dieser Einfluß der Schrift auf die Sprache mußte immer größer und größer werden, je mehr Büchermenschen es gab und je größer zugleich die Einübung des einzelnen Büchermenschen im Lesen und Schreiben wurde, je mehr bei so vielen einflußreichen Leuten das Lautbild vom Wortbild verdrängt wurde. Im einzelnen läßt es sich nachweisen, dass die verschiedene Schreibung desselben Wortes die Sprache genau so bereicherte wie sonst nur Lautveränderung und dass auf die Trennung des Wortbildes in der Schrift — wenigstens für mein Lesergefühl — die Trennung des Lautbildes folgte oder zu folgen beginnt. "Das" und "dass", "wieder" und "wider" sind gute Beispiele. "Das" und "dass" ist noch in nahe historischer Zeit ein und dasselbe Wort; ich will nicht darauf eingehen, dass es ursprünglich als Artikel, Fürwort und Konjunktion doch auch einmal ein und dieselbe Kategorie war; sicherlich aber war es anfangs einzig und allein in der Schreibung, also einzig und allein fürs Auge, als Wortbild auseinander getreten, als "das" den Artikel und das Pronomen, "dass" die Konjunktion bedeutete. Man lese nun den eben niedergeschriebenen Satz laut und man wird nicht umhin können, das Wort in seiner verschiedenen Anwendung auch verschieden auszusprechen. Hier freilich nur in ungebräuchlicher Weise, wie man am Ende einmal auch eine Bildungssilbe betonen kann. Aber auch sonst wird ein feines Ohr heraushören, dass ein guter Sprecher "das" und "dass" verschieden ausspricht — weil ein Zufall dazu geführt hat, es verschieden zu schreiben. Noch krasser liegt die Sache bei "wieder" und "wider". Die meisten Deutschen würden es für einen Fehler halten, das gleiche Wort in beiden Bedeutungen gleich auszusprechen. Und nur das Vorhandensein des anderen Wortes "Widder" wird den legendären Sprachgeist verhindern, die Präposition eines Tages mit dd zu schreiben. Es liegt also wieder die deutliche Tatsache vor, dass die Differenzierung der schriftlichen Sprache der Armut der lebendigen Sprache aufzuhelfen versucht hat. Nicht viel anders liegt es überall da, wo wir an der verschiedenen Schreibung absolut gleichlautender Worte (z. B. Ton und Thon) festhalten, um die arme Sprache nicht noch ärmer werden zu lassen. Einzig und allein die schriftliche Sprache verfügt da über zwei Worte. Die lebendige Sprache kennt nur eines, solange sie sich nicht bemüht, wie in "das" und "wieder" den Laut zu differenzieren.