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Drucksprache

Wie schon gesagt, diese Entwicklung hat langsam angefangen, um seit der politischen Anregung der französischen Revolution, seit der Anwendung der Dampfmaschinen auf die Buchdruckerpresse und der Erfindung der Rotationspresse, kurz seit der ungeahnten Ausbildung des Zeitungswesens ungeheure Dimensionen anzunehmen. Heute ist in Deutschland ein Ausnahmsmensch, wer nicht lesen und schreiben kann. Diese theoretische Kenntnis will freilich nicht viel sagen. Aber auch die praktische Übung im Lesen hat namentlich seit dem Beginn der sozialdemokratischen Agitation maßlos an Ausdehnung gewonnen. Es ist also in Deutschland (und ähnlich in anderen Ländern) die Zahl der Menschen außerordentlich groß, die sich dem psychologischen Zustande nähern, in welchem der Mensch durch eingeübtes Lesen Mitteilungen erhält.

Will man den Gegensatz zwischen der Schriftsprache und der gesprochenen Sprache studieren, so darf man sich nicht mit der Durchforschung von Literaturdenkmalen begnügen. Natürlich bietet Vergilius mehr schriftsprachliche Eigenheiten als Homeros; aber auch Homer ist schon durch Schrift auf uns gekommen. Mir ist die Gequältheit und Unwahrheit der Schriftsprache niemals deutlicher geworden, als wenn ich in die Lage kam, Kinder Briefe schreiben zu sehen. Es ist ihnen ebensowenig wie den meisten jungen und alten Schriftstellern klar zu machen, dass sie nur zu schreiben hätten, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist.

Seitdem nun die Schriftsprache durch den Buchdruck zur fast ausschließlichen Sprache der Büchermenschen geworden ist, seitdem daneben die ungeheuere Schnelligkeit und ungeheuere Ausbreitung der Tagespresse die neueste Sprachentwicklung, und zwar begreiflicherweise in ihren schwächsten Kopien, auf das letzte Dorf gebracht haben, ist es Zeit, auch die Psychologie dieser neuesten Sprachepoche zu beobachten, die man wohl die der Drucksprache nennen könnte. Es ist möglich, dass die Schönheit der Muttersprache durch die Drucksprache einmal so weit vernichtet werde, dass niemand mehr den Bildermischmasch des Reporterstils ("an Bord der Wahlurne") häßlich oder lächerlich finden wird. Es ist aber auch möglich, dass die allgemeine Verbreitung von Nachschlagebüchern die bisherige Art des Lernens überflüssig machen wird, dass hier der Alexandrinismus für den Alexandrinismus, dort das Leben für das Leben denken und sprechen wird.

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